Das Wesentliche für die Rose



Ich will Euch erzählen, was mir so in der letzten Zeit passierte, als ich einen Partner suchte. Es ist schon verrückt, denn der Spruch, daß wenn man so richtig sucht, man keinen Partner findet, da scheint was Wahres dran zu sein. Meine Wenigkeit ist etwas unter 30 und ich sehe ziemlich durchschnittlich aus. Das heißt, das ich eben nicht aussehe, wie ein Boy von irgendeiner Boygroup. Somit laufen meine Chancen gegen Null. Ach, was habe ich nicht alles veranstaltet. Ich bin in Schönheitsstudios gegangen, haben mich von meinen besten schwulen Freunden durchstylen lassen, wenn es um meine Klamotten ging und versuchte immer schön trendy zu sein. Nichts hatte genutzt. Man beachtete mich überhaupt nicht. Selbst ein Frontalangriff auf alle Sinne, damit meine ich bunte Levis-Shirts, knallenge Hosen, durchgestyltes Haar und eine coole Sonnenbrille, dazu ein Sortiment an Düften, das Douglas neidisch werden lassen würde, hat nichts genutzt.

Ich suchte alle Orte auf, an denen sich Schwule aufhielten. Kneipen, Parks, Discos und Friseursalons. Niemand hat mir auch nur einen Blick geschenkt. Nein, das stimmt eigentlich nicht, denn einen Blick bekam ich immer... den vernichtenden Blick der Jury. Ich bin einfach nur Durchschnitt und damit kann ich mich halt direkt erschießen. Nach einiger Zeit war ich sogar schon so frustriert, daß ich versuchte eine Kontaktanzeige aufzugeben. Es war einfach grauenhaft, was da sich alles meldete. Der Bodensatz der schwulen Menschheit versammelte sich briefmäßig in meinem Briefkasten. Langsam war ich drauf und dran zu glauben, daß es doch besser sei, wenn ich auswandern würde - am besten noch auf einen anderen Planeten. Dabei ging es mir doch so eigentlich nicht schlecht. Ich wohnte recht nett, hatte einen Job und auch eine Menge Bekannte. Zudem konnte ich auch noch ein paar dieser Bekannten Freunde nennen.

Ich fing an zu zweifeln und das recht kräftig und an mir selber. Was konnte ich denn noch verändern, daß ich endlich auffallen würde? Ich mußte mich endlich damit abfinden: Es gab und gibt keinen Menschen, der sich für mich wirklich interessiert.

Diesen Gedanken hing ich nach, als ich bei einem guten Bekannten mit einigen anderen Schwestern zusammen auf einer ziemlich großen Fete herumhing. Es waren gut und gerne 40 Leute eingeladen. Es war laut und lustig. Das Buffet war schon fast geplündert und einige Pärchen hatten sich schon gefunden. Nur ich saß alleine im Partykeller in einer Ecke herum und hing schweren Gedanken nach. Dabei sonderte ich mich nicht ab, nein, ich saß mitten in einer Gruppe Freunde und Bekannter. Stumm ergriff ich mein Glas und nippte am mittlerweile etwas schal gewordenen Bier. Beiläufig beobachtete ich das Pärchen gegenüber, daß sich Händchen haltend, verliebt anlächelte. Mir war, als müßte ich ersticken.

"He, schaut Euch doch mal die beiden Turteltauben an. Sind sie nicht nicht süß?"

Gerd, der neben mir saß zeigte mit dem Finger auf unser Gegenüber und alles kicherte. Ich rang mir auch ein Lächeln ab. Von links neben mir knuffte es in meine Seite. Ich schaute wohl etwas verwundert zu meinem anderen Nachbar, Thorsten, herüber.

"Mann, lach doch mal!"

Ich rang mir ein Lachen ab, das wohl ziemlich gequält aussehen mußte.

"Na, so ist es schon besser. Was hast du denn? Schlechte Laune?"

Ich riß mich zusammen und sagte so lässig wir möglich: "Nein, wie kommst du denn darauf? Ich habe nur ein paar Probleme mit dem Bier."

"Hast wohl zuviel getrunken?"

"Ja, das scheint so. Ich werde mal an die frische Luft gehen."

Mühsam zwängte ich mich an der Sitzgruppe vorbei und holte mir noch ein frisches Glas Bier an der Theke. Dann schlenderte ich an verschiedenen Gesprächsgrüppchen vorbei in Richtung Kellertreppe, die nach oben auf eine Terrasse führte. Frische Luft drang mir entgegen.

Es war eine sternenklare Sommernacht und kein Mond hing am Himmel. Es war ziemlich dunkel, weil dieses Haus alleine am Waldrand stand. Hinter der Terrasse lag ein kleines Gärtchen, in dem phantasievoll Büsche und Hecken gepflanzt waren. Der Garten verlief ziemlich schlauchförmig. Es trieb mich in die Dunkelheit hinaus. Am Ende der Anlage war ein Jägerzaun, hinter dem direkt der Wald begann. Vor dem Jägerzaun stand eine kleine Sitzgruppe aus abgeschnittenen Holzklötzen, sehr rustikal angeordnet. Ich setzte mich auf einen Klotz und stellte mein Glas auf einen ebenfalls ungerade geschnittenen Klotz, der wohl als Tisch dienen sollte. Tief sog ich die kühle Nachtluft ein und schnupperte den Duft des Waldes. Ich schaute hoch zu den Sternen und versuchte einige Sternbilder zu ergründen. Ich seufzte noch einmal tief und griff mein Glas wieder, um davon zu trinken und erschrak. Neben mir stand eine dunkle Gestalt so, als wäre sie aus dem Nichts erschienen. Sie stand etwas hinter mir und hielt auch ein Glas in der Hand.

"Hach, jetzt habe ich mich aber erschrocken."

"Hast wohl geträumt? Es ist ja auch sehr schön hier und ruhig."

Ja, das stimmte. Die Ruhe des dunklen Waldes dominierte alles. Er schluckte jedes Geräusch. Die Gestalt setzte sich auf der anderen Seite des Tisches auf einen Holzklotz und stellte sein Glas auf den Tisch.

"Es ist so schön und friedlich hier, daß man sich wünscht für immer hier zu sein."

Ich schaute wieder in den dunklen Wald hinein.

"Drinnen ist es dir wohl zu laut und zu hektisch?"

"Ja, irgendwie sehne ich mich ein wenig nach Ruhe..."

"...und Einsamkeit?"

Mein Gesprächspartner wandte mir den Kopf zu, als erwartete er eine Antwort.

"Ja, vielleicht auch Einsamkeit."

"Bist du gerne alleine?"

"Manchmal... ja, aber oft bin ich zu sehr alleine. Es ist komisch, immer dann, wenn ich unter Menschen bin, dann möchte ich alleine sein und wenn ich alleine bin, dann möchte ich unter Menschen sein. Anscheinend kann ich nicht mit dem zufrieden sein, was ich habe."

Mein Gegenüber kicherte.

"Geht es dir etwa auch so?"

Ich versuchte ihn wieder anzuschauen, nahm aber nur die dunklen Umrisse seiner Gestalt wahr. Er wiegte den Kopf und sagte: "Nicht nur dir scheint es so zu gehen, sondern auch noch Millionen anderer Menschen. Ich glaube, wir wären keine Menschen, wenn wir uns nicht immer nach dem sehnen würden, was wir nicht haben."

"Meinst du wirklich?"

Er gab mir keine Antwort und ich erwartete auch keine. Ich ergriff mein Glas und nippte am Bier. Dann stellte ich es wieder hin. Eine Pause entstand, aber entgegen meiner sonstigen Angewohnheit solche Gesprächspausen mehr als peinlich zu finden, genoß ich die Ruhe und das Wissen, daß da noch jemand war, der Ähnliches empfand. Nach einer Weile stand er auf und sagte: "Gehst du mit?" Er riß mich mit dieser Frage aus meinen Träumen.

"Wohin?"

"Na, in den Wald. Da vorne ist ein kleines Tor in den Zaun eingelassen. Der Wald ist recht licht und eben. Wir könnten einen kleinen Spaziergang machen."

Ein seltsames Gefühl beschlich mich. Ich alleine mit einem Unbekannten im dunklen, stillen Wald. Ein Anflug von Angst packte mich. Ich versuchte sie wegzuwitzeln: "Na, gut daß ich meine Pumps heute nicht anhabe. Mit denen könnte ich nicht in den Wald..."

"Muß das sein?"

Er klang etwas genervt.

"Was denn?" fragte ich fast erschrocken.

"Na, dieses Gehabe. Hier hast du kein Publikum und hier brauchst du keinen schwule Show zu spielen. Vergiß doch einfach mal deine Theaterrolle. Sei doch wenigstens jetzt einmal du selbst!"

Ich war beschämt. Was sollte ich darauf sagen? Es traf mich tief. Irgendwie hatte er mich erkannt.

"Entschuldige..."

Er kicherte.

"Na, nun mach mal halblang. Was soll ich denn entschuldigen. Nur fühlst du nicht, daß in der Stimmung solch ein Gehabe nicht angebracht ist? du machst dir nur die Stimmung kaputt."

"Recht hast du, es war auch nur reine Unsicherheit."

Ich fing mich wieder.

"Ach, es passiert dir doch nichts. Wenn du nicht willst, dann brauchst du auch nicht mitzugehen."

"Ich möchte schon..."

"Ok, dann mal los."

Er schritt langsam zum Tor, öffnete es und wir gingen hindurch. In den Wald ging es leicht bergauf und der Boden war weich, fast schon nachgiebig. Es war ein Nadelwald und die Nadeln der Bäume auf dem Boden polsterten den Weg. Nach ein paar Metern schlossen sich die Bäume hinter uns und schluckten nun wirklich jegliches Geräusch das bis jetzt noch von der Feier und der winzig kleinen Ortschaft zu mir gedrungen war. Die ganze Akustik änderte sich und es hallte ein wenig als ich mich räusperte. Ich bin etwas nachtblind, in der dunkelheit sehe ich fast gar nichts.

"Nicht so schnell, ich sehe ja nicht mal, wo ich hintrete. Ich hoffe doch, daß du dich auskennst?!"

"Ich kenne mich wirklich ein wenig aus hier. Keine Angst, wir finden schon noch zurück. Ich sehe wohl besser in der dunkelheit. Möchtest Du nicht meine Hand nehmen? Dann geht es sich sicherer."

Ich zögerte einen Augenblick und wollte meine Unsicherheit schon mit einem blöden kleinen Witz über Hänsel und Gretel im Wald überspielen, aber dann ließ ich es besser.

"Wenn es dir nicht unangenehm ist?"

"Quatsch! Wieso sollte es? Habe ich dir meine Hand nicht von selber angeboten?"

Statt einer Antwort ergriff ich die mir angebotene Hand im dunkeln und hielt mich daran fest, als ich einen herabgefallenen Ast überkletterte. sie war warm und weich... und gab mir das Gefühl der Sicherheit. Trotzdem war es mir ein wenig unangenehm. Was war, wenn er merkte, daß ich schwitzige Finger hatte? Mochte er mich dann nicht mehr halten? Ich riß mich zusammen und so gingen wir langsam und vorsichtig immer tiefer in den Wald, bis wir einen Waldweg kreuzten an dessen Rand Baumstämme aufgestapelt waren. Hier drang das Sternenlicht ein wenig mehr durch und sofort fühlte ich mich sicherer. Als wir auf die freie Fläche des Weges kamen, ließ er meine Hand los. Es war seltsam, aber nun sehnte ich mich wieder nach seiner Hand, obwohl ich auch wieder froh war sie nicht mehr halten und immer denken zu müssen, daß es ihm unangenehm war. Wir setzten uns auf einen dicken Stamm, der am Rand des Weges lag.

"Du bist ein Stadtmensch, oder?"

Ich lachte: "Ja, man merkt das?"

"Naja, ist ja auch nicht schlimm."

Er schwieg wieder. Mir fröstelte, denn hier im Wald war es reichlich viel kühler. Ich zog meine Weste um mich und kauerte mich ein wenig zusammen.

"Ist dir kalt?"

"Ja, es ist schon frostig hier."

"Ich kann dir meine Strickjacke geben. Möchtest du sie haben?"

"Und was ist mir dir? Dann frierst du doch."

"Ach was", er stand auf, zog seine Strickjacke aus und hängte sie mir über die Schultern,

"ich habe doch noch ein Sweatshirt unter der Jacke und so leicht friere ich nicht."

Ich zog die Jackenärmel um mich. sie roch nach ihm. Ein wenig nach Rauch und ein wenig nach Parfüm. Mir wurde schon wärmer.

"Und wenn dir noch immer kalt ist, dann können wir uns ja auch gegenseitig wärmen."

Ich schluckte. Sowas hatte ich fast schon erwartet. Jetzt wo er es aussprach, da merkte ich, wie peinlich mir diese Situation eigentlich war. Es war so, wie ich es mir in meinen Träumen immer ausgemalt hatte und doch war etwas anders. Ich konnte nicht so selbstverständlich reagieren, wie ich es immer in meinen Träumen tat. Deshalb antwortete ich gar nichts. Ohne eine Reaktion setze er sich wieder neben mich.

"Hast du Angst vor mir?"

Ohne nachzudenken schoß es heraus: "Ja, schon, aber das hat nichts mit dir persönlich zu tun. Ich habe eher Angst vor der Situation."

"Warum das?"

"Weil ich nichts falsch machen will. Weißt du, ich habe mir schon oft vorgestellt, wie es sein könnte, wenn... ich eine solche Situation erleben, aber nun ist es real und ich kann mich nicht fallenlassen. Verstehst du, was ich meine?"

"Ja, das verstehe ich. Aber warum hast du denn dann Angst vor mir? Glaubst du, daß ich etwas tue, was du nicht möchtest?"

Ein Vogel schrie in der Nacht. Eine Eule? Ich zuckte zusammen, weil das nicht weit von uns entfernt klang. Er bekam das mit und lachte.

"Das ist zu komisch, vor der Eule scheinst du auch Angst zu haben."

Mir war gar nicht nach Lachen zumute. Ich hätte im Boden versinken können und schwieg.

"Nun sag schon, glaubst du wirklich, daß ich was tue, was dir nicht paßt?"

"Nein, eher im Gegenteil. Ich habe Angst vor mir selber und meinen Träumen. Ich habe Angst davor, daß es nicht so sein könnte, wie in meinen Träumen oder daß ich was mache, was alles kaputt macht. Die Stimmung und so. Ich glaube nicht, daß du was machst, was mir nicht paßt...eher, daß du es nicht machst..."

"Mein Gott, was für ein Bündel voller Komplexe!"

Er lachte leise. Ich schämte mich und scharrte mit den Füßen auf dem Waldweg herum.

"Du bist ein seltsamer Mensch. du sehnst dich immer nach dem, was du nicht hast, du überspielst Unsicherheit mit dämlichen Sprüchen und hast Angst vor deinen eigenen Träumen. Wie wäre es, wenn du mal alles vergessen würdest?"

"Wie soll ich alles vergessen? Wie meinst du das?"

"Paß auf, konzentriere dich doch einfach mal auf den Wald. Er strahlt eine solche Ruhe aus."

"Willst du mich hypnotisieren?"

Ich meinte es nicht ernst, aber er faßte es so auf.

"Nein, wie sollte ich? Ich will dich nur beruhigen. Horche einfach auf die Stille und vergiß dich und deine Komplexe für einen Augenblick. Hier tut dir niemand was und du bist sicher. Du bist im Dunkeln und niemand sieht dich, noch nicht mal ich sehe dich richtig. Das dunkel ist nicht bedrohlich, sondern es schützt dich. Es umfängt dich, wie meine Jacke. deinen Namen weiß ich auch nicht und ...bitte sage ihn nicht. du bist nun einfach mal ein Anderer als du sonst bist. Was hältst du davon?"

Ich schwieg und hörte in den Wald hinein. Auf einmal war mir alles egal. Ich war nicht mehr auf dieser Welt. Ich war weit weg von allen Alltagssorgen und mein Probleme warteten vor dem Waldrand. Ich wurde ruhiger und alles fiel von mir ab.

"Denke einfach, daß das hier nicht real ist oder denke einfach, daß Du träumst."

Ich lächelte innerlich, denn das dachte ich schon eine geraume Zeit. Doch war alles so real und doch wieder nicht.

"Denke einfach, daß du eingeschlafen bist und träumst mit mir in den Wald zu gehen und hier zu sitzen."

"Jetzt wird es aber unheimlich."

Er lachte leise: "Nein, das ist nicht unheimlicher, als sonst in deinen Träumen."

"Woher willst du das wissen?"

"Meinst du nicht, daß auch ich Träume habe?"

"Aber es sind meine Träume."

"Wenn du mal ehrlich bist, sind wir Menschen doch gar nicht so unterschiedlich. Oft haben wir alle sehr ähnliche Träume."

"Stimmt, aber kaum jemand ist bereit für seine Träume was zu tun."

"Bist du es denn?"

Ich überlegte.

"Nein, schade, du hast Recht. Ich laufe auch vor meinen Träumen davon und bekomme sogar Angst, wenn sie sich zu erfüllen scheinen. Es ist verblüffend! Bist du Psychologe?"

Er grinste: "Nein, aber ich habe Augen im Kopf und bin ein Mensch."

Ich dachte nach und sprach meinen Gedanken aus: "Bist du das wirklich?"

"Ja."

"Wer bist du?"

"Möchtest du das wirklich wissen? Du machst es doch nur kaputt. Nenn’ mich Lohengrin wenn du es möchtest, mein Schwan." Er lachte auf.

"Willst du alles kaputt machen? Denk an den Spruch: ‘Nie sollst du mich befragen’?"

Nun brach er in noch größeres Gelächter aus.

Ich war verunsichert: "Was würde es denn kaputtmachen, wenn ich wüßte, wer du bist?"

"Ich denke, es würde dich zum Aufwachen bringen. Also lassen wir das, denn dazu ist es noch zu früh... oder schon zu spät, wenn man es genau nimmt. Was möchtest du denn nun wirklich?"

Langsam verlor ich den Sinn für die Realität. Er redete wirres Zeug, aber ich verstand irgendwie was er meinte. So wirr war das alles nicht. Ich nahm allen Mut zusammen und dachte daran, was er eben gesagt hatte und flüsterte: "Ich möchte, daß du deinen Arm um mich legst."

Ohne zu zögern tat er es und dabei rückte er näher heran.

"Darf ich wieder deine Hand halten?"

Er reichte mir seine andere Hand und ich nahm sie. Leicht streichelte ich seine Finger. Wir saßen nun Bein an Bein auf dem Baumstamm und schauten in die dunkelheit zwischen den Bäumen. Ich legte meinen Arm um seinen Rücken und streichelte ihn im Nacken. Dabei drehte er leicht seinen Kopf, damit ich meine Finger in seine Haare vergraben konnte. Er hatte schöne Haare.

"Ich könnte ewig hier so sitzen."

"Ab jetzt tust du es."

"Nein, das tue ich nicht. Ich sitze nur diesen Augenblick hier und bald müssen wir wieder zurück. Dann ist die Fete aus und ich fahre nach Hause."

"Das stimmt nicht. Du kannst immer wieder hierhin zurückkommen... in Gedanken."

"Ach, das stimmt, aber das ist mir zu wenig. Ich will nicht träumen, ich will erleben. Ich muß sehen, was ich erlebe."

"Was du siehst, das ist nicht wesentlich. Das Wesentliche sieht man nicht mit den Augen, sondern nur mit dem Herzen."

"Das kenne ich, es stammt von Saint Exupéry. Ich habe ihn nicht verstanden, diesen Poeten. Ich konnte mich noch nie mit dem kleinen Prinzen identifizieren. Wenn ich mir eine Figur aus dem Buch aussuchen müßte, dann würde ich sagen, daß ich die Rose bin. Ganz bestimmt nicht so schön und so einzigartig, aber irgendwie so einsam. Ich warte auf meinen Prinzen, weil ich nicht anders kann."

"Das tust du die ganze Zeit? Du wartest? Unglaublich!"

Er schüttelte den Kopf. "Was siehst du denn mit den Augen in dieser Dunkelheit?"

"Nicht viel!"

Ich sah mich um.

"Ich sehe die dunklen Umrisse der Bäume, ich erahne den Waldweg, ich sehe die Sterne und ich sehe deinen Umriß."

"Aha! Das ist nicht viel, oder? Den Rest siehst du mit deinem Herzen."

Er hatte Recht. Nun verstand ich den Poeten. Das Wesentliche, was ich wahrnahm, war in meinem Herzen. Ich spürte seinen Arm um mich und sah mich beschützt, ich spürte seine Hand und sah mich liebkost, ich fühlte seine Wärme und sah ihn als Menschen. Ich hörte seine Stimme und bildete mir ein ihn zu sehen. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte sagte er: "Siehst du, anders ist es, wenn du Licht hast zum Sehen. Du schaust, aber du siehst nichts. Das was du sehen könntest, das wird überlagert von dem, was du schaust."

Ich fühlte mich ihm so nah. Ich zog ihn an mich. Allen Mut zusammennehmend hauchte ich: "Küsse mich!"

Er zog mich zu sich und näherte seinen Mund an meinen. Leicht öffnete ich meine Lippen und spürte, wie er mich küßte. Nach einer Zeit trennten wir unsere Münder voneinander und ich atmete tief ein.

"Ich will nicht!"

"Was willst du nicht?"

"Ich will nicht, daß das ein Traum ist."

"Es ist kein Traum! Spürst du das denn nicht?"

"Nein, wenn es hell wird, dann ist alles vorbei. Du existierst nicht in Wirklichkeit und ich... ja, was ist mit mir? Bin ich wirklich hier?"

"Ach, du bist so ein Träumer. Wenn dies ein Traum sein sollte, dann müßten wir doch in irgendeiner Geschichte sein und nicht hier in Wirklichkeit sitzen. Wir sitzen aber hier oder war mein Kuß so unwirklich?"

Er grinste. Ich wußte, daß er scherzte, aber mir war nicht nach scherzen zu Mute. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und er streichelte mir übers Haar. So saßen wir noch eine kleine Ewigkeit und hielten uns.

"Komm, laß uns gehen, sonst schläfst du hier tatsächlich noch ein."

Ich hob meinen Kopf von seiner Schulter und sah in sein dunkles Gesicht.

"Und wenn es wirklich ein Traum ist, dann ist gleich alles vorbei."

"Erstens ist es kein Traum, meine kleine Rose, und zweitens fängt es jetzt erst an... wenn du willst."

Ich verstand. Ich verstand auf einmal alles. Nahe davor in Tränen auszubrechen stand ich auf und zog ihn hoch. Ich fiel ihm in die Arme und drückte ihn ganz fest.

"Dann laß es uns ausprobieren. Laß uns gehen und sehen, ob ich aus diesem Traum erwache oder nicht. Laß mich sehen, ob du hinter dem nächsten Baum einfach verschwindest und es so ist, als ob du nie dagewesen wärst. Laß uns das Risiko eingehen!"

Er lachte nicht und sagte sehr ernst: "Ja, laß es uns ausprobieren, ob dieser Traum zu Ende geht. Wenn wir am Haus angekommen sind, dann wissen wir es. Ich will auch nicht, daß es einfach so endet."

"Und wenn es enden muß?"

"Dann ist es Schicksal und wir können uns beide immer wieder in Gedanken hier treffen."

"Bist du denn immer hier?"

"Ja, wenn du auch hier bist?"

"Ich verspreche dir, daß ich immer da sein werde."

"Ich verspreche es auch."

Ich nahm seine Hand und zog ihn in den Wald hinein. Ich wußte nun, was zu tun war. Es würde sich zeigen und ich war entschlossen aus diesem Traum nicht mehr aufzuwachen. Langsam gingen wir unter meiner Führung - Hand in Hand - durch den dunklen, stillen Wald. Ich war nicht nur gespannt auf den Waldrand und was danach kam, ich sehnte ihn herbei. Diesmal würde es kein Aufwachen geben. Ich war fest entschlossen mich in Zukunft auf das Wesentliche zu konzentrieren - auf das was ich fühlte und nicht darauf, was ich schaute.