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FONO FORUM 2000
Nicolai Gedda zum 75.Geburtstag

"Ich höre wie im Traum"

Ein Porträt von Jürgen Kesting (Quelle: FONO FORUM Ausgabe 7/2000)

Es gibt Sänger, die noch nach 50 Berufsjahren hervorragend singen, und es gibt Sänger, die jeden Stil und jede Sprache beherrschen. Aber es gibt nur wenige, die beides vereinen und zu hoher Künstlerschaft führen. Einer von ihnen ist Nicolai Gedda, der am 11. Juli 75 wird. Daß er zu den bedeutendsten Sängern des 20. Jahrhunderts gehört, wir nicht zuletzt durch ein gewaltiges Schallplatten-OEuvre dokumentiert. Jürgen Kesting hat sich mit einigen exemplarischen Aufnahmen des Sängers beschäftigt.

 
 
Gedda als Palestrina
Kehrt man wirklich immer wieder, wie ein französisches Sprichwort sagt, zu seinen alten Lieben zurück? Oder ist die Erinnerung nur die Meisterin der Verklärung? Nein, nein, schon nach den ersten Phrasen von Nadirs a-Moll-Arie aus "Les Pêcheurs de Perles" hört man den jungen Nicolai Gedda wieder wie im Traum Lauscht man den Strömen einer silbrig schimmernden Stimme, die am Ende auf das c schwebt und betörend süß verklingt. Nicolai Gedda war 27 Jahre alt, als er 1953 unter Alceo Galliera sein erstes Recital aufnahm.
Es ist leicht, zu den Aufnahmen des jungen Nicolai Gedda zurückzukehren. Und wie steht es um spätere Aufnahmen oder gar um die späten? Seit zehn oder mehr Jahren reihten sich bei mir einige Aufnahmen der Firma Bluebell im Regal (Lieder von Wilhelm Peterson-Berger, Wilhelm Stenhammer, Emil Sjögren u.a.), bisher aus vorsichtiger Skepsis nicht gehört. Gedda hat sie in seinen späten Fünfzigern aufgenommen. Auf ein Lied von Peterson-Berger ("Jungfrun unter lind") war ich durch eine Platte des 41-jährigen Jussi Björling (Bluebell ABCD) aufmerksam geworden. Welche Überraschung, daß Nicolai Gedda frischer klingt und müheloser durch die weitgespannten Passaggio-Phrasen gleitet als sein Vorgänger; und erstaunlich, daß er mit derselben Verbindung von Elan und Delikatesse, von Verve und Lyrismus singen konnte wie in seinen besten frühen Aufnahmen.

 
Mit vielen seiner Aufnahmen, durchaus nicht mit allen, mag es einem ergehen wie mit den Filmen von Alfred Hitchcock, die man, wie Francois Truffaut einmal sagte, auch beim wiederholten Sehen zu erstemal sieht. Ob man "Ange du paradis" aus Charles Gounods "Mireille" hört oder die Traumerzählung aus Jules Massenets "Manon" - Gedda beschert dem Hörer viele "Instants charmants". Unvergleichlich, wie er die Reprise von Lenskys Abschiedsgesang "Kuda, kuda" in Melancholie und Verzweiflung taucht. Der Poet in Tschaikowskys Oper gehört, wie Offenbachs Hoffmann, zu den besten Partien des schwedischen Tenors. Um so bedauerlicher, daß er den Lensky nicht in einer Gesamtaufnahme singen konnte und den Hoffmann ein einer disparaten Einspielung aufnehmen mußte.
Geddas Stimme besaß die zarte und changierende Lasur von Perlmutt, aber auch, wie die von Issay Dobrowen dirigierte Einspielung von Modest Mussorgskys "Boris Godunow" zeigt, sehnige Elastizität. Bis auf den heutigen Tag ist Geddas Darstellung des falschen Dimitri weder stimmlich noch darstellerisch erreicht worden. Beim Aufbau seiner Laufbahn hat sich Gedda, wie seine fast gleichaltrigen Kollegen Carlo Bergonzi (1924) und Alfredo Kraus (1927), an die Maxime gehalten, stets innerhalb seiner Mittel zu singen. Hinsichtlich seiner Vielseitigkeit aber war Gedda nicht nur Bergonzi und Kraus überlegen, sonder n allen Tenören nach 1950.
Plácido Domingo hat zwar ähnlich viele Opernpartien aufgenommen, aber nicht mit der stilistischen Versatilität und der musikalischen Differenziertheit des in sechs Sprachen nicht nur akzentfrei, sondern auch eloquent singenden Schweden. Als Gedda 1957 an der Metropolitan Opera den Anatol in der Uraufführung von Samuel Barbers "Vanessa" sang, erteilte er seinen amerikanischen Kollegen eine Lektion in Fragen artikulatorischer Prägnanz. Non pareil war er im französischen Fach. Daß Léopold Simoneau als Glucks Orphée betörender klingt als Gedda, mag auch daran liegen, daß ihm Transpositionen erlaubt wurden, die Gedda nicht benötigte.
Carlo Maria Giulini, Nicolai Gedda, Christa Ludwig während der Aufnahme des Verdi-Requiems

 
Gedda als Herzog in Verdis Rigoletto
Grandios das von George Prêtre dirigierte Recital "Gedda à Paris": der fiebrig-ekstatische Ausbruch von Werthers "Un autre époux", die anmutige Brillanz des Postillon-Liedes, die voix mixte in den Arien aus "Mignon", "Mireille" und "Le Roi d'Ys" oder die skulptural ausgeformten Phrasen der beiden Cellini-Arien aus der Oper von Hector Berlioz bezeugen eine technische Meisterschaft, von der seine Rollennachfolger weit entfernt sind. Für Partien wie Faust (1953 und 1957 unter André Clytens) oder Don José (1958 unter Sir Thomas Beecham), stilistisch makellos gesungen, fehlte ihm noch ein Quentchen an vokaler Energie - und ein Quantum an dramatischem Temperament.
Enttäuschend hingegen die von George Prêtre lieblos dirigierte Aufnahme von Berlioz' "La Damnation de Faust"; auch Gedda klingt hier nur routiniert und teilweise sogar angestrengt ("Nature immense"). In brillanter Form präsentierte er sich hingegen im Januar 1969 in einer RAI-Aufführung unter Prêtre (mit der prachtvoll singenden Marily Horen und dem ebenso eleganten und furiosen Méphistophélès von Roger Soyer). Wenige Monate später sang er - erneut neben Marilyn Horne (Cassabdre) und Shirley Verrett (Didon) - den Enée in "Les Troyens", die heikle Tessitura der Rolle mühelos bewältigend. 1972 klang seine Stimme nicht mehr so frisch wie vordem, doch sang er die lange und extrem hoch liegende Partie des Benvenuto Cellini meisterhaft; die von Colin Davis betreute Aufnahme, überwiegend mit französischen Sängern besetzt, gehört zu den Juwelen in der Diskographie französischer Oper.
Hört man ihn endlich in der von Ernst Märzendorfer dirigierten konzertanten Aufführung von Giacomo Meyerbeers "Les Huguenots" (1971), so kann man nur bedauern, daß er die Rolle nicht auch im Studio hat aufnehmen können. In der überaus heiklen Romanze "Plus blanche" (die Stimme, dialogisierend mit der Bratsche geführt, wird hier gnadenlos exponiert) klingt er noch nicht restlos frei, in  einigen Figurationen angestrengt, doch in den hoch und höher sich schraubenden Phrasen des grandiosen Duetts (mit Enriqueta Tarrès) demonstriert er die hohe Schule des französischen Gesangs, vor allem beim Singen mit der voix mixte. Die klangliche Qualität des von Myto veröffentlichten Mitschnitts ist sehr akzeptabel.

 
Ebenso dringlich zu empfehlen ist der Mitschnitt einer von Henry Lewis dirigierten konzertanten Aufführung von "Le Prophète" mit der brillanten Marilyn Horne (die in ihrer Studio-Aufnahme einen stimmlich ungeratenen Sohn namens James McCracken zugemutet bekam). Man muß schon zu den besten Aufnahmen von Fernando de Lucia, Hermann Jaklowker oder Dimitri Smirnow zurückgreifen, um einen Meyerbeer-Stilisten vom Range Geddas zu hören. 
Keine glückliche Hand hatte Walter Legge, als er Gedda 1954 neben Maria Callas als Don Narciso in "Il Turco in Italia" einsetzte; Cesare Valletti wäre die weit bessere Wahl gewesen. In der 1975 entstandenen Aufnahme des "Barbiere" unter James Levine verfängt Gedda sich in den Fiorituren wie eine Fliege im Netz. Sein Pinkerton in "Madame Butterfly", erneut neben Maria Callas, hat einigen Charme, doch zu wenig Kraft. Hingegen setzt er als Herzog in "Rigoletto" mehr auf Kraft als auf Charme; er singt einfach ledern. Bemerkenswert die Subtilität seines Singens in Verdis "Messa da Requiem" unter Giulini mit einem superben Triller im "Hostias". Daß er auch in romantischen Belcanto-Partien reüssierte, zeigen Mitschnitte von Bellinis "La Sonnambula" (Met 1963) und vor allem von "I Puritani" (Philadelphia 1963) neben Joan Sutherland. 
Gedda mit Bernstein bei der Aufnahme von Candide

 
Daß er sich von Riccardo Muti dazu verleiten ließ, beim Maggio Musicale Fiorentino den Arnoldo in Gioacchino Rossinis "Wilhelm Tell" zu singen, hat er selber als einen der wenigen Fehler seiner Laufbahn angesehen. Es ist gut zu erkennen, daß er der Stimme gleichsam ein zu hohes Gewicht aufsattelt und eine gewisse Angespanntheit bleibt ständig spürbar. Und doch: Wären andere Sänger beim Versuch mit dieser Rolle nur annähernd so brillant! Die Höhenflüge im Duett ("Ah! Matilde"), im Ensemble ("Troncar suoi") wie in der Stretta nach "O muto asil" bewältigt er müheloser als jeder andere Tenor; phänomenal die rasche Attacke der diversen c in der Stretta. Nur fehlt ihm danach die Energie, die Stretta mit einem gehaltenen c abzuschließen. In der französischen Originalfassung des Stückes unter Gardelli setzt er seine Mittel vorsichtiger ein, technisch und stilistisch absolut souverän. 
Als Walter Legge den jungen Sänger 1952 in Stockholm entdeckte und beim ersten Probesingen die beiden Ottavio-Arien aus "Don Giovanni" hörte, kabelte er an Herbert von Karajan, er habe den besten Mozart-Tenor seines Lebens gehört. Diesem Lob wird er mit seinen Aufnahmen kaum gerecht. Bei der Einspielung von "Die Entführung aus dem Serail" unter Josef Krips war er indisponiert; als Don Ottavio unter Klemperer wirkt er darstellerisch prätentiös (und in den Melismen der zweiten Arie so unsicher wie in Idomeneos "Fuor del mar"). Seinem Tamino, stilistisch makellos, geht die feurige Emphase eines Fritz Wunderlich ab. Ein Muß hingegen sind seine Operetten-Aufnahmen, allerdings die frühen: "Die Fledermaus" unter Karajan, "Die lustige Witwe" unter Matacic, "Wiener Blut" und "Das Land des Lächelns" unter Ackermann. 
Ein Glanzpunkt seiner Diskographie ist das von Gika Zdravkovitch begleitete Recital mit Arien aus russischen Opern; singulär die mit fanalartiger Verve und feinsten Kopfstimmen-Piani gesungene Arie des Sorbinin aus Glinkas "Ein Leben für den Zaren! und die nächtliche Klage des Gritzko aus "Der Jahrmarkt von Soroschintzi". Nicht missen endlich möchte ich, unter einer Reihe von guten Liedplatten, das von Alexis Weissenberg fulminant begleitete Recital mit Liedern von Serge Rachmaninoff - allein schon wegen des Liedes "Fürr die Kinder". Hier hört man im Kern, was die große Kunst Geddas ausmacht: Brillanz, Phantasie und Subtilität.