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Vielseitigkeit, Stil und technische Perfektion.

Nicolai Gedda: Eine Jahrhunderstimme

Es war 1952, als Walter Legge, der mächtigste Plattenproduzent der Nachkriegsjahrzehnte, nach seinem Vorsingen in Stochholm an Herbert von Karajan und an den Intendanten der Mailänder Scala, Antonio Ghiringelli, telegrafierte: „Hörte gerade den größten Mozart-Sänger meines Lebens: Sein Name ist Nicolai Gedda.“

   Der junge Mann, der an der Stochholmer Oper gerade als „Postillon von Lonjumeau“ sein fulminantes Bühnendebüt gegeben hatte, wurde sofort engagiert als Grigori in „Boris Godunow“ für die (inzwischen legendäre) Plattenaufnahme Issay Dobrowens. Gedda wurde zu einer der sängerischen Säulen künftiger EMI-Produktionen und zu einem der gefragtesten Tenöre der folgenden Jahrzehnte auf allen großen Opernbühnen der alten und neuen Welt. Zwar machte er seine internationale Blitzkarriere nicht als Mozarttenor, aber eine andere Prophezeiung Legges, die Nicolai Gedda in seiner Autobiographie überliefert, bewahrheitete sich: „In ein paar Jahren wird die ganze Musikwelt von Ihnen sprechen.“
   Der Sechsundzwanzigjährige war nicht nur auf der Stelle von einem der wichtigsten Plattenproduzenten exklusiv unter Vertrag genommen worden, er erhielt sofort einen Vorsingtermin an der Mailänder Scala, wo er 1953 debütierte. Ein Jahr später sang er im Wiener Musikverein den Don José in einer konzertanten „Carmen“, an Covent Garden den Herzog im „Rigoletto“, an der Pariser Opéra den Hüon in Webers „Oberon“ und den Tamino in der „Zauberflöte“. Das Festival in Aix-en-Provence rief ihn. Bereits 1957 sang er an der New Yorker Met den (französischen) Faust, den (italienischen) Ottavio und den (amerikanischen) Anatol in der Uraufführung von Samuel Barbers „Vanessa“. Die Salzburger Festspiele engagierten ihn als Belmonte in der „Entführung“ und als Horaz in der Uraufführung von Liebermanns „Schule der Frauen“.
   Nicolai Gedda war nicht nur, was man im heutigen Musikmanagement einen „shooting-star“ nennt, er war der stilistisch wie sprachlich vielseitigste Sänger seiner Generation. Und ein enorm fleißiger Künstler auf der Bühne wie im Konzertsaal und im Plattenstudio. Seine Diskographie ist die wohl umfangreichste, die es von einem Tenor überhaupt gibt. An die hundert Gesamtaufnahmen hat er eingespielt, darunter eine Fülle bis heute unübertroffener Referenzaufnahmen vor allem im französischen Fach, für das sich seine Stimme ideal eignete. Wer nach 1945 sang Meyerbeer oder Berlioz so idiomatisch, so elegant, so kultiviert wie Gedda? Auch sein Rossini-Gesang setzte Maßstäbe. Allein der Reichtum der Trouvaillen und Raritäten unter Geddas Aufnahmen übersteigt bei weitem die Repertoire-Hitliste Pavarottis, Carreras‘ und Domingos. Gedda war ein Tenor der Extraklasse, ein Ausnahmesänger, der die für heutige Verhältnisse ungeheuerliche Eigenschaften besaß, die „voix mixte“ optimal einzusetzen, die Register seiner Stimme bruchlos verblenden zu können und vorbildlich zu deklamieren. Darüber hinaus verfügte er über eine geradezu Staunen machende stilistische wie sprachliche Einfühlungsgabe ins Französische nicht nur, sondern auch ins Russische, Schwedische und Deutsche. Seine biographisch bedingte Mehrsprachigkeit kam ihm dabei zugute. Um den italienischen Verismo hat er wohlweislich einen Bogen gemacht, ebenso wie um das allzu Dramatische und Heldenfach. Er wollte den lyrischen Glanz seines makellos strömenden, hellen und hohen Tenors nicht gefährden. Eines der Geheimnisse seiner langen und erfolgreichen Gesangskunst war gewiß der sichere Instinkt und das Wissen um die Grenzen seiner Stimme. Die warme Sinnlichkeit des Südens zum Beispiel fehlte ihr, sonnige Italianità und Erotik. Geddas Singen hatte und hat stets etwas Keusches, Silbriges, Kühles, gepaart allerdings mit Anmut, Leichtigkeit und atemberaubender technischer Virtuosität. Der Stimmumfang Geddas war allerdings außergewöhnlich, die Tragfähigkeit seiner präsenten, sehr resonanten Stimme hervorragend. Allen schlimmen, gefürchteten Tenorgefährdungen und –untugenden (mit denen manche heutigen Tenöre schamlos und ohne künstlerisches Gewissen dennoch Karriere machen) hatte Gedda bis ins hohe Alter widerstanden. Er hat nie forciert, seine Stimme hat den „richtigen“ Sitz, sie ist frei von Versteifungen, Verengungen, Tremolos oder sonstigen Abnutzungserscheinungen. Noch seine Liederabende der letzten Jahre (immerhin eines über siebzigjährigen Sängers) bestachen durch jugendlichen Klang, Geschmeidigkeit und technische Präzision der Stimmführung. Es darf sich glücklich schätzen, wer einen dieser raren Liederabende hören konnte.
   Immer waren aristokratische Eleganz, perfekte Idiomatik, nuancierteste sprachliche Gestaltung, enorme Stilsicherheit und makellose Phrasierung unschlagbare Qualitätskennzeichen von Geddas Vortrag. Er hat Vorbildcharakter! 1990 gab er mit der Partie des Hoffmann in „Hoffmanns Erzählungen“ an der Wiener Staatsoper seinen offiziellen Abschied von der Opernbühne. Erfreulicherweise gestattet er sich immer wieder Rückfälle. Liederabende gedenkt er so lange fortzusetzen, wie es seine Stimme erlaubt und er das Publikum zu begeistern vermag. Die standing ovations, die ihm Jung und Alt auf seinen raren Liederabenden noch der jüngsten Vergangenheit darboten, sprechen für sich.

   Es ist zu hoffen, daß er nicht nur zum Plaisir der Nostalgiker und Stimmfetischisten, sondern als lebendiges Exempel für das nachwachsende Publikum, aber auch für jüngere Sängergenerationen zum Vorbild noch einige Jahre als hörbare, erlebbare Legende einer leider aussterbenden, hohen tenoralen Gesangskultur auftreten wird.
   Wer das singuläre Phänomen Nicolai Gedda, die Vita und die künstlerische Karriere des Sängers näher kennenlernen will, der wird die (auf Tonbandprotokollen seiner Frau basierende, 1977 erstmals auf Schwedisch veröffentlichte) aus schlichtem Empfinden und Formulieren entstandene Autobiographie Nicolai Geddas als Schlüssel zu seiner Gesangskunst zu nutzen wissen. Sie erhebt keinerlei hochtrabende intellektuelle Ansprüche. Es ist die aufrichtige Dokumentation einer warmherzigen, fragilen, romantischen, zu Melancholie neigenden, introspektiven Künstlerpersönlichkeit. Wie ein roter Faden sieht sich das Trauma der Ungewißheit seiner Herkunft durch den Lebensbericht Geddas, der mit einer rätselhaften, hin- und hergeworfenen Kindheit und Jugend beginnt. Die sympathische Schüchternheit und sich selbst schützende Distanziertheit, ja Introvertiertheit des Menschen Nicolai Gedda mögen darin wurzeln. Ganz sicher aber auch die eiserne Disziplin seiner Gesangskultur und vor allem jener spezifisch keusche Klang seiner Jahrhundertstimme, die so einzigartig wie unverwechselbar ist.
 
 
Berlin, August 1988 Dieter David Scholz

 
entnommen aus:   Gedda_Buch.jpg (40024 Byte) Gedda, Nicolai:

Mein Leben - Meine Kunst

Aufgezeichnet von Aino Sellermark-Gedda

Berlin: Parthas Verlag GmbH, 1998

ISBN 3-932529-22-7