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Nicolai Gedda singt Opernarien (1988)
Seit mehr als drei Jahrzehnten steht Nicolai Gedda nun im Mittelpunkt des internationalen Musiklebens, wird von der Fachkritik als einer der vielseitigsten, stilsichersten und technisch perfektesten Sänger der Nachkriegszeit bezeichnet. Immer wieder überraschte Gedda das Publikum, das weitere Steigerungen seiner musikalischen und technischen Möglichkeiten kaum mehr für denkbar hielt, dadurch, daß er immer wieder neue Rollen erarbeitete und Grenzüberschreitungen ins dramatische Fach nicht nur wagte, sondern auch schadlos überstanden hat. Auch wenn Gedda auf der Schallplatte wie im Opern- und Konzertleben schier allgegenwärtig war und ist, so wurde er dennoch nicht ein Star im üblichen Sinne. Auf ihn ließe sich ein Satz des Komponisten Gustav Mahler anwenden, der einmal sagte: "Es gibt nur einen Star – das Werk des Komponisten". Gedda hat das Werk des Komponisten nie benutzt, um sich selbst als Star in den Mittelpunkt zu stellen. Er hat sich stets als Stimme der Musik verstanden; selten aber hat die Musik eine Stimme gehabt, die sich nachdrücklicher für sie einsetzte.
Eine leichte, strahlende Höhe zusammen mit einem exquisiten, unverkennbar persönlich gefärbten Timbre – das sind für einen Tenor zwei ideale Voraussetzungen, gewissermaßen die Eintrittsbillets für die große Karriere. Aber stimmliche Naturqualitäten, wie beliebt sie beim Publikum auch sein mögen, nutzen sich rasch ab (und dann ist das Publikum gnadenlos), wenn sie nicht durch eine beherrschte Technik und kluges Augenmaß für die eigenen Möglichkeiten kontrolliert werden. So manch ein Talent hat sich rasch, allzu rasch im Musikbetrieb verschlissen oder verschleißen lassen. Anders Gedda. Er war, als junger Sänger zumal, gescheit genug, sein Repertoire strikt auf lyrische Rollen abzustellen, die dem hellen, lyrischen Klang seiner Stimme entsprachen. Das führte beileibe nicht zu einer Einschränkung oder gar Einseitigkeit des Repertoires. Im Gegenteil, das hatte den zusätzlichen Effekt, daß Gedda sich zahlreicher Werke annahm, von denen man sonst nur aus dem Opernführer wußte. Und daß man "Karriere" im extensiven Sinne auch dann machen kann, wenn man nicht nur auf Wirkung zielt, das bewies Gedda gleichsam nebenbei.
Denn nachdem Karajan den Sänger 1953, ein Jahr nach seinem Debüt in Stockholm, als Don Ottavio an der Mailänder Scala eingeführt hatte, konnte Gedda schon 1954 sein Debüt an vier europäischen Opernhäusern von Rang geben: in Rom sang er wiederum den Don Ottavio; in Wien stellt er sich als Don José in Carmen vor; in London übernahm er an der Covent Opera den Herzog in Rigoletto; in Paris endlich wagte er sich an die Bravourpartie des Hüon in Webers Oberon, deren dramatische Koloratur er mit vergleichsloser Verve bewältigte. Und seit er 1957 an der Metropolitan Opera den Faust in Gounods gleichnamiger Oper gesungen hatte, eilt ihm die Formulierung eines Kritikers voraus: "Poet unter den lyrischen Tenören".
Es wird der Tag kommen, an dem Nicolai Gedda aus historischer Perspektive gesehen wird. Aber wie man schon heute an seinen Schallplatten nicht vorbeikommt, wenn man etwas über die Möglichkeiten der Gesangskunst ausmachen will, so wird man in Zukunft seine Aufnahmen als Maßstab nehmen müssen. Schon heute aber sollte Geddas Wirkung für die Bildung von Maßstäben bei der musikalischen Geschmacks- und Bewußtseinsbildung nicht zu gering veranschlagt werden.
Jean-Louis Dutronc