Zur Startseite
Opernwelt 1988

 

Gespräche mit Nicolai Gedda


 
 

Imre Fabian im Gespräch mit Nicolai Gedda



Herr Gedda, Sie sind halb russischer, halb schwedischer Abstammung. Erlauben Sie mir, daß wir auf Ihre Familiengeschichte zurückgreifen, denn sie hört sich wie eine Leidensgeschichte an, wie sie in unserem Jahrhundert viele Familien erlebt haben. Ihr Vater, Michail Ustinov, hat seine russische Heimat nach der Revolution verlassen und lebte in der Emigration.

Wenn wir über meine Familiengeschichte sprechen wollen, muß ich einige erklärende Hinweise hinzufügen. Ich habe es früher vermieden, über diese Dinge zu sprechen, es war mir peinlich und teils auch unangenehm. Aber ich finde, daß in unseren Gesprächen die Sache klargestellt werden sollte, schon deshalb, damit auch deutlich wird, wie viel ich meinem Vater verdanke. Michail Ustinov war nicht mein leiblicher Vater, er hat mich adoptiert. Mein richtiger Vater war halb Schwede, halb Russe, das heißt, meine Großmutter war Russin. Mein Großvater, Gustav Gedda, war Graveur und lebte in Südschweden. Er ist kurz nach dem Ersten Weltkrieg nach Riga ausgewandert und hatte eine große Familie. Mein richtiger Vater hieß Nicolai Gedda. Als ich geboren wurde, 1925, herrschten auch in Schweden schwere Verhältnisse. Meine richtigen Eltern konnten nicht heiraten, sie wollten mich in einem Heim unterbringen. Da kam jene Frau, die ich meine Mutter nenne, Olga Gedda, und beschloß, mich zu adoptieren. Das heißt: Biologisch ist Olga Gedda meine Tante. Ich habe das von meiner Stiefmutter erst im Alter von elf Jahren erfahren. Ich erinnere mich genau, daß mich diese Mitteilung nicht besonders aufgeregt oder betroffen gemacht hat. Erst später bekam ich Komplexe, auch Scham hinderte mich daran, über die Sache offen zu sprechen. Ich habe eigentlich nur fünfundzwanzig Prozent russisches Blut, im Grunde bin ich ein richtiger Schwede. Meine Adoptivmutter war nicht verheiratet. Sie hat mich unter schwierigen Bedingungen erzogen, wir lebten in bescheidenen Verhältnissen. Mein späterer Adoptivvater, Michail Ustinov, kam mit dem Don-Kosaken-Chor nach Stockholm. Er lernte meine Stiefmutter kennen, sie verliebten sich und heirateten. Ich war damals drei Jahre alt. Wenn ich daran denke, daß Ustinov mich als sein eigenes Kind akzeptiert hat, empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Ich war ein ziemlich verspieltes, schwieriges Kind, er hatte sicher große Mühe mit mir. Er war ein strenger, auch autoritärer Vater.

Hat er Sie zur Musik geführt?

Ja, er war ja Sänger und Dirigent, mit einer soliden musikalischen Ausbildung. Was er vor dem russischen Bürgerkrieg gemacht hat, darüber habe ich wenig erfahren, außer, daß er in der russischen Provinz als Lehrer tätig war. Er mußte schon damals irgend etwas mit der Kirche zu tun gehabt haben. Er erhielt dann eine gut dotierte Stelle in der russisch-orthodoxen Kirche in Leipzig. Er wollte selbst nach 1933 in Deutschland bleiben, denn die meisten russischen Emigranten sahen anfangs in Hitler eine Art Befreier, sie hatten ja keine Ahnung davon, worum es eigentlich ging.

Gab es in Leipzig eine starke russische Gemeinde?

Die Leipziger Kirche ist als Denkmal für die dreißigtausend russischen Soldaten, die in der Völkerschlacht gegen Napoleon gefallen sind, errichtet worden. Sie wurde 1913 eingeweiht, am Portal sind auf zwei großen Steinplatten die Namen der Gefallenen eingehauen. Es war später die Kirche der ziemlich großen russischen Gemeinde in Leipzig, Emigranten, die vor der Revolution nach Deutschland geflüchtet sind. Ich habe 1965 die Kirche wieder gesehen, sie ist erhalten geblieben und hat den Zweiten Weltkrieg ohne größeren Schaden überstanden.

Entschuldigen Sie, wenn ich nochmals auf Ihre Familie zurückkomme. Haben Sie Ihren leibhaftigen Vater kennengelernt?

Ja, ohne zu wissen, daß er mein Vater ist. Später, als ich als Sänger schon bekannt war, meldete er sich schriftlich, davor wollte er von mir überhaupt nichts wissen. Er war verheiratet und hatte Familie. Meine richtige Mutter habe ich erst vor einigen Jahren gesehen. Die alte Dame war verständlicherweise ein unbekannter Mensch für mich, zu dem ich überhaupt keine Beziehung fand. Sie war auch verheiratet, mit einem anderen, nicht mit meinem Vater.

Von Michail Ustinov haben Sie Russisch gelernt, er führte Sie auch an die Musik heran.

In Leipzig. Davor waren wir in Stockholm, wo ich geboren wurde, aber an diese Jahre kann ich mich nicht mehr erinnern. Mein Adoptivvater war ein richtiger Russe, der wahrscheinlich die ganze Zeit davon geträumt hat, daß er eines Tages in die Heimat zurückkehren darf. Er konnte, obwohl er über dreißig Jahre in Schweden gelebt hat, kaum einen Satz auf schwedisch sagen, er sprach nur russisch. Deutsch sprach er auch nicht, in Leipzig verkehrte er nur mit Russen. Wir hatten unsere Wohnung im Kirchengebäude. Mein Vater leitete neben dem Kirchenchor auch einen kleinen Chor. Samstag und Sonntag war Gottesdienst. So bin ich regelrecht in der Kirche aufgewachsen.

Sie sind in Leipzig zur Schule gegangen.

Zwei Jahre, in eine deutsche Schule. Dort habe ich Deutsch gelernt, als Kind habe ich schwedisch gesprochen. Meine Adoptivmutter hat zu Hause russisch und schwedisch gesprochen, in Riga lettisch, und auch deutsch. Sie sprach also schon als junges Mädchen vier Sprachen. Vor der Revolution hat sie als Sekretärin in Moskau gearbeitet und hat die Revolution in Moskau erlebt. Da sie einen schwedischen Paß hatte, konnte sie mit einem Diplomatenzug über Tallin nach Stockholm zurückkehren. Das war um 1920 oder 1921. Es folgten schwere Jahre, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, sie konnte in ihrem Beruf nicht weiter arbeiten. Noch schwerer war es, als wir aus Leipzig wieder nach Schweden zurückkehrten. Meine Mutter hatte die Vorahnung, daß unter den Nazis schlimme Zeiten ausbrechen werden. Ich habe ja als Kind noch die ersten Naziparaden in Leipzig gesehen. Meine Mutter versuchte meinen Vater, der in Leipzig bleiben wollte, denn er fühlte sich im Kirchendienst sehr wohl, zur Übersiedlung nach Schweden zu überreden. Nachdem meine Mutter einmal allein und danach mit mir nach Schweden fuhr, konnte sie schließlich 1934 meinen Vater dazu bewegen, nach Stockholm überzusiedeln. Während des Krieges lebten wir in Schweden. Mein Vater bekam keine Arbeit, so hat meine Mutter die Familie ernährt. Trotzdem konnte sie für meine Ausbildung sorgen, ich kam aufs Gymnasium, machte Abitur. Danach suchte ich eine Stelle und wurde Bankangestellter, absolvierte auch ein Jahr Militärdienst. Gesungen habe ich auf der Schule, auch in Kirchen, die Tenorstimme kam erst verhältnismäßig spät nach dem Stimmbruch. Meine Kollegen in der Bank redeten auf mich zu, daß ich meine Stimme bei einem Lehrer ausbilden sollte. Wir hatten viele Bekannte aus den baltischen Ländern, so lernte ich ein Jahr, 1947/48, bei einer Opernsängerin aus Riga. Sie hieß Maria Winters und hatte in Riga einen guten Namen als Sängerin. Sie war keine Pädagogin, sie konnte mir kaum etwas vermitteln. Ich mußte einen Lehrer finden, und da hat der Zufall geholfen. Unter den Klienten der Bank war ein Mitglied des Orchesters der Königlichen Oper. Wir plauderten ein wenig, und ich erwähnte ihm, daß ich gerne Gesang studieren möchte. Da sagte er, seine Frau ist Pianistin und begleitet die Studenten von Martin Öhman. Offen gesagt war ich kein großer Verehrer der Stimme Öhmans. Meine ersten Lieblinge unter den Tenören waren die deutschen "Knödeltenöre", die Epigonen meines Idols Richard Tauber. Erst später entdeckte ich die italienische Schule, Sänger wie Caruso, Schipa und Gigli. Die große Revelation war Gigli für mich. Natürlich habe ich ihn in den ersten Jahren brav imitiert, mit allen seinen Unarten.

Gingen Sie als junger Mann in die Stockholmer Oper?

Ja, schon während des Gymnasiums. Die Königliche Oper hatte damals ein riesengroßes Repertoire.
 
 

Operndebüt in Stockholm
 
 
Sie sind dann doch zu Öhman gegangen.

Die Frau des Musikers hat mich bei Öhman eingeführt. Ich habe ihm u. a. "Una furtiva lagrima" aus Donizettis "Liebestrank" vorgesungen. Da sagte er mir, so schön habe er diese Arie nur von Björling und Gigli gehört. Kein Wunder, daß er mir auf Anhieb sehr sympathisch geworden ist. Ich hatte dennoch Bedenken, denn Öhman sang stets etwas zu tief, was mit seiner Technik zusammenhing. Aber es war für mich eine hervorragende Schule. Öhman war in den dreißiger Jahren ein Star der Städtischen Oper Berlin, hatte aber sein Geld falsch angelegt und lebte zu dieser Zeit in einer bescheidenen Wohnung. Sein Privatleben verlief auch ziemlich turbulent, mit vier Ehen. Öhman lobte meine Stimme und meinte, ich brauche eine sängerische Ausbildung. Ich sagte ihm, daß ich für die Stunden nicht bezahlen kann, denn von meinem Gehalt als Bankangestellter mußte ich auch meine Eltern ernähren. Er erwiderte, die ersten Monate könne er mich ohne Honorar unterrichten. Ich hatte von Natur aus eine sehr hohe, kleine, gut sitzende Stimme, aber ohne Schulung, hatte auch keine Ahnung von Technik. Die habe ich von Öhman gelernt. Die Übergangstöne waren seine Stärke, die Deckung, usw., all die technischen Dinge, über die wir später vielleicht noch sprechen werden. Nach kurzer Zeit machte ich solche Fortschritte, daß ich den ersten Preis, dreitausend Kronen, der Christine-Nilsson-Stiftung gewonnen habe. Im Herbst 1949 habe ich bei Öhman angefangen, im selben Winter konnte ich schon meine Stunden bezahlen. Dann habe ich bei verschiedenen Anlässen, Beerdigungen, Hochzeiten, in Kirchen gesungen und Geld verdient. Öhman kannte den Direktor meiner Bank und erreichte bei ihm, daß ich nur halbtags arbeiten mußte. Ich kam mit Öhmans Hilfe in die Opernschule, bekam die Möglichkeit, in der Oper zu arbeiten. Das war 1950 und 1951, die schönsten Jahre für mich. Die Opernschule war in der Musikakademie untergebracht, als Lehrer waren Regisseure der Oper tätig. Wir erhielten Unterricht in Darstellung, Bewegung, musikalisch in Ensemblearbeit, meine Gesangsstunden nahm ich weiterhin bei Öhman. Wir durften auch in der Oper im Chor singen oder kleinere Partien übernehmen. Allmählich konnte ich die Bank verlassen


An der Eingangstür zur Bühne der Stockholmer Oper

Im Herbst 1951 saß ich in einer Unterrichtsstunde bei Kurt Bendix. Er sagte unerwartet: Herr Gedda, setzen Sie bitte diesen Ton an. Ich haben den hohen Ton, den er am Klavier anschlug, ohne Mühe gesungen. Später stellte sich heraus, daß er nur wissen wollte, ob ich ein hohes D singen kann. Dann kam er auf mich zu, lobte mich und sagte, man möchte mir die Chance zum Operndebüt geben, in einer Partie, die sehr schwer ist. "Wir gehen ein großes Risiko ein, aber hoffen, daß Sie sich bewähren werden." Dann habe ich drei Monate an der Rolle des Chapelou in Adams "Postillon von Lonjumeau" gearbeitet.

Haben Sie die Höhe erarbeitet oder war sie von Natur aus gegeben?

Sie war schon da. Die Stimme war eigentlich ein starkes Falsett. Was mir Öhman beigebracht hat, war die Stütze, daß ich ein C mit Stütze singen konnte, richtig angesetzt. Die Höhe war für mich kein Problem, ich hatte sie von Natur aus. Es gibt eine Bandaufnahme von dieser Produktion im Schwedischen Rundfunk, leider war es der zweite Abend, an dem ich ein bißchen müde war, denn nach der Premiere hatte ich nur einen Tag Pause. In der Premiere war ich besser, sie brachte für mich den durchschlagenden Erfolg. Die Partie ist für einen ganz hohen Tenor komponiert, sie bereitete mir keine Schwierigkeiten. So gut hat mir Öhman die Technik beigebracht, daß ich mich völlig sicher fühlte. Am 9. April 1951 wurde ich über Nacht berühmt, in Stockholm jedenfalls.

Es wird gesagt, daß in einer dieser Vorstellungen Herbert von Karajan saß.

Nein, das stimmt nicht. Diese Begegnung fand später statt. Am Premierenabend sagte mir der Maskenbildner in der Garderobe: "Nicolai, bist Du denn überhaupt nicht nervös? Es ist immerhin eine Premiere, in der Du als Student debütierst." Ich antwortete ihm, daß ich überhaupt keine Nervosität spüre, denn ich bin ja so gut vorbereitet, daß nichts schief gehen kann. Als ich dann auf der Bühne stand, spürte ich schon die berühmten Schmetterlinge im Bauch. Ich muß zurückblickend sagen, daß ich als junger Mann gar nicht ganz begriffen habe, welche Verantwortung auf mir lag. Ich hatte ja nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Es war eine gute Jahreszeit, ohne Erkältung, die Stimme völlig frisch, in bester Disposition – also ein besonderer Glücksfall.
 
 

Begegnung mit Walter Legge
 
 
Ich arbeitete noch ein halbes Jahr in der Opernschule, dann erhielt ich von der Oper einen miesen Vertrag als Stipendiat. Kaum war ich einige Wochen an der Oper, kam Elisabeth Schwarzkopf zum Gastspiel nach Stockholm. Vielleicht war auch Issai Dobrowen der Dirigent, das weiß ich nicht mehr genau. Dann kam auch Walter Legge, um sich schwedische Sänger anzuhören. Ich sang ihm etwas auf russisch vor. Da sagte er: Herr Gedda, wenn Sie mit mir arbeiten, werden Sie in ein paar Jahren in ganz Europa bekannt. Er hat mich als Dimitri für die Schallplattenaufnahme von Mussorgskijs "Boris Godunow" engagiert. Das war im Sommer 1952. Dann ging es mit der Karriere schnell voran. In meinem Briefkasten fand ich auch eine Einladung zum Vorsingen an der Mailänder Scala. Das war im Juni 1952, mein erster Flug überhaupt. Aus Mailand flog ich nach Paris, zu den Aufnahmen des "Boris". Es ging alles wunderbar, und schon während der Aufnahmen machte Legge einen Exklusivvertrag für EMI mit mir.

So kann man sagen, daß Walter Legge Ihr erster großer Förderer war.

Ja, er war es, nicht Karajan. Man sagt, Karajan hätte mich entdeckt, das stimmt aber nicht. Er hat wahrscheinlich eine Bandaufnahme von mir gehört. Im selben Jahr engagierte mich die RAI für "Oedipus Rex" von Strawinsky unter Karajan. Ich lese Noten wunderbar, aber die Partie war schon etwas Besonderes. Ich habe als Student im Schwedischen Rundfunkchor unter Eric Ericsson alte Musik gesungen, sehr schwere, polyphone Musik vom Blatt gelesen. Ich hatte also Erfahrung. Trotzdem: Die erste Probe von "Oedipus" war eine Katastrophe. Da sagte Karajan: "Herr Gedda, Sie bringen mich in eine sehr schwere Situation." Das war sehr peinlich für mich. Dann hat ein Maestro bei der RAI mit mir jeden Takt durchgearbeitet. In zwei Tagen habe ich den Part perfekt gelernt. In der Generalprobe und im Konzert habe ich ohne Fehler gesungen. So hat mich Karajan im nächsten Jahr auch für Luzern genommen.


In seiner Wohnung

 

In seiner Wohnung
Als meine internationale Karriere begann, bekam ich zunehmend Schwierigkeiten mit der Stockholmer Oper, die mich nicht freigeben wollte. Man hat mir mitgeteilt, ich müßte den Beruf erst richtig lernen und in Stockholm bleiben. Ich war nicht der Einzige, den man in Stockholm auf diese Weise festhielt. Jussi Björling hat sieben Jahre an der Stockholmer Oper gesungen, bis er seine internationale Karriere beginnen konnte, und Birgit Nilsson hat schon in Bayreuth gesungen, als sie immer noch vertraglich an die Oper gebunden war. Ich habe mit ihr, schon als Gast, im "Don Giovanni" ein einziges Mal zusammen gesungen. Sie sang die Donna Anna. Für mich war es eine Zeitlang ein harter Kampf, die Urlaube für meine Auslandsverpflichtungen zu bekommen, bis ich schließlich vom Vertrag erlöst wurde.

Es folgten in rascher Folge Verpflichtungen nach Paris, nach Deutschland, Schallplattenaufnahmen wie "Faust" unter Cluytens. Mein Kalender war plötzlich voll. Dann hieß es, Walter Legge möchte mit mir fünf Operetten aufnehmen. Das war schon immer mein Traum, er ging nun in Erfüllung. Es kamen drei Strauss-Operetten unter Otto Ackermann – "Wiener Blut", "Eine Nacht in Venedig" und "Zigeunerbaron" – heraus, dann "Die Fledermaus" unter Karajan, mit Elisabeth Schwarzkopf und Erich Kunz. Meine Liebe zur Wiener Operette kann ich darauf zurückführen, daß ich als junger Mann für diese "Tauber-Stimmen" schwärmte.

1957 debütierte ich an der New Yorker Met. Ich hatte aber nicht das Gefühl, daß ich es mit dem erfolgreichen Debüt nun geschafft habe. Ich wollte weiterstudieren, die Stimme weiterbilden. Viele Künstler meinen, daß sie nach dem ersten durchschlagenden Erfolg nichts mehr für ihre Bildung tun müssen. Meine Einstellung war anders. Durch George London und Igor Markévitch lernte ich Paola Novikova kennen, eine Gesangspädagogin russischer Abstammung von fast legendärem Ruf. Sie war auch die Lehrerin von George London und Irmgard Seefried, für mich war sie sozusagen eine Art weiblicher Tito Schipa. Wir sprachen russisch miteinander, so glaube ich, daß ich sie, ihre Gedanken über Gesang am besten verstanden habe. Ich habe fast zehn Jahre lang mit ihr gearbeitet, in New York, im Sommer in Wien. Insgesamt habe ich fünfzehn Jahre lang ohne Unterbrechung Gesang studiert. Alle Partien, jede Phrase habe ich mit meiner Lehrerin erarbeitet. Hätte mir Frau Novikova nicht die richtige Technik beigebracht, wäre meine Stimme nicht so lange intakt geblieben. Meine beiden Lehrer, denen ich so viel verdanke, sind fast zur gleichen Zeit gestorben: Frau Novikova 1967, Öhman 1968, im Alter von achtzig Jahren. Auf dem soliden Background, den mir diese Beiden gegeben haben, konnte ich selbst weiter arbeiten.
 
 

Rasche internationale Karriere

Die rasche internationale Karriere brachte neue Verpflichtungen. Hatten Sie schon ein so großes Repertoire?

Ich mußte viel lernen, Gott sei Dank lerne ich ziemlich schnell. So kamen ja auch aus der modernen Literatur neue Partien hinzu, neben dem Oedipus in Orffs "Trionfi" unter anderem. Auch die Operettenrollen mußte ich alle lernen. 1954 habe ich in "Fausts Verdammnis" von Berlioz gesungen, alles neue Aufgaben. Im Mozart-Fach kam der Tamino hinzu. Nach Stockholm ging ich 1956 zurück, damals war Set Svanholm der Operndirektor. Er hat mich als Gast verpflichtet, ich habe den Tamino und Belmonte auf schwedisch gelernt. Den Tamino habe ich in fünf oder sechs verschiedenen Sprachen gesungen.
 
 

In der Partie des Chapelou debütierte Gedda 1951 an der Stockholmer Oper
Hat es die große Karriere mit sich gebracht, daß Sie so viele Sprachen beherrschen?

Nein, wir hatten schon im Gymnasium guten Sprachunterricht. Deutsch fiel mir sehr leicht. Dann kam Englisch dazu, eine leichte Sprache. Französisch schien mir auch nicht schwer, weil wir ja auf der Schule Latein hatten. Französisch wurde meine Lieblingssprache, ich singe auch sehr gerne auf französisch. Wieder ein Glücksfall für mich, daß ich schon als Kind drei Sprachen gesprochen habe, die anderen kamen sozusagen von selbst hinzu. Italienisch habe ich selbst gelernt. Ich bin, auch was die Aussprache anbelangt, ein Perfektionist. Deshalb habe ich auch ein so breites Repertoire.

Sie haben auch im Konzertbereich ein breites Spektrum erarbeitet, das von Rameau und früher Musik über Mozart bis Strawinsky reicht.

Für einen Sänger, der nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, bleibt das deutsche Lied ein schwieriges Gebiet. Entweder versucht man, zu viel zu machen, das wirkt dann unnatürlich und prätentiös. Oder man trifft nicht den richtigen Ton. Im deutschen Lied ist das Volkstümliche, das ganz Schlichte so schwer, das einfachste Schubert-Lied ist das schwerste. Christa Ludwig sagte einmal sehr richtig: "Entweder ist man damit geboren, ein deutsches Lied zu singen, oder nicht." Am besten gelingen mir Lieder, wo ich etwas Konkretes vorfinde, am schwersten fällt mir die Interpretation tiefsinniger Poesie, wo so viel zwischen den Zeilen steht. Was Fischer-Dieskau so wunderbar kann. Ich war mit meinen Interpretationen deutscher Lieder nie zufrieden. Gibt man zu wenig Stimme, ist es falsch, Gibt man zu viel, wirkt es opernhaft. Ich finde auch, daß man eine menschliche Reife erreichen muß, um Lieder gut interpretieren zu können. Andererseits könnte ich sagen, im Alter von 26 oder 30 Jahren habe ich Lieder besser gesungen, meine Interpretationen waren schlichter. Das war eben die Naivität, die Unmittelbarkeit.


 
War die plötzliche große Karriere eine psychische Belastung für den jungen Sänger Gedda?

Eigentlich nicht. Viel geholfen haben mir die Erfolge, die ich ja hatte. Sie gaben mir Kraft und haben auch verhindert, daß ich mich auf meinen Lorbeeren ausruhe. Ich wollte immer besser werden. Erfolge waren die Energiequelle für mich, ich habe nie aufgehört, Gesang zu studieren. Als ich nach meinem Met-Debüt 1957 in New York zu Frau Novikova ging, tat ich es mit der Einstellung, daß ich nichts kann. Ich machte bei ihr große Fortschritte, technisch und auch interpretatorisch. Nur für das deutsche Lied habe ich nicht den richtigen, entscheidenden Ratgeber gefunden. Viel geholfen hat mir in diesem Bereich Günther Weißenborn.

Mit Hjördis Schymberg im "Postillon" auf der Bühne

Mit Hjördis Schymberg im "Postillon" auf der Probe
Sie haben mit bedeutenden Dirigenten und wichtigen Regisseuren zusammengearbeitet.

An erster Stelle möchte ich dennoch Walter Legge erwähnen. Zu Beginn meiner Karriere war Herbert von Karajan von großer Bedeutung für mich. Er hat aber auch bei mir nicht den richtigen Ansatz gefunden. Wie kann man denn einem neunundzwanzigjährigen lyrischen Tenor den Don José anbieten? Wir haben es konzertant in Wien gemacht, es ging sehr gut, aber es war nicht meine Sache, ich war doch kein Don José. Auf der Schallplatte ist das etwas anderes. Diese Wiener Aufführung war eigentlich die Vorbereitung für seine Scala-Produktion, dort sang di Stefano den José.

Zwischen Ihnen und Karajan ist es schließlich nicht zu einer engeren künstlerischen Beziehung gekommen.

Nein, gar nicht. Er ist ein großartiger Dirigent, aber ich war vom Menschen Karajan enttäuscht. Ich habe als junger Künstler von ihm fast nichts gelernt. Es war wunderbar, mit ihm zu singen. Aber ich fand ihn zu diktatorisch und als Regisseur unbedeutend. Mich hat es auch gestört, daß man nie mit ihm ein paar Worte in Ruhe sprechen konnte. Gestört hat mich auch, daß er seine Sänger etwas von oben herab behandelt hat. Meine Beziehung zu Karajan war eine Mischung von großer Bewunderung und menschlicher Enttäuschung. Mit anderen großen Dirigenten, z.B. mit Klemperer, war das ganz anders.


 
Ihre Erfahrungen mit Regisseuren?

Begeistert war ich von meinem Lehrer in Schweden. Aber ich war ja Anfänger und hatte keine Vergleichsmöglichkeiten. Der zweite Regisseur, mit dem ich zu tun hatte, war leider Herbert von Karajan. Gelernt habe ich vom Regisseur Gian Carlo Menotti, der die ziemlich schwache Oper von Samuel Barber, "Vanessa", an der New Yorker Met inszeniert hat. Menotti ist ein großer Theatermann, die Zusammenarbeit mit ihm war eine echte Bereicherung für mich. Dann folgte eine Enttäuschung der anderen. Leider habe ich mit den größten, Ponnelle, Strehler, Visconti, Zeffirelli, Ingmar Bergman, nie gearbeitet. Otto Schenk habe ich in sehr guter Erinnerung. Als Rolf Liebermann die Leitung der Pariser Oper übernommen hat, engagierte er mich für Glucks "Orpheus", in der französischen Fassung für Tenor. Regisseur war René Clair, für mich eine legendäre Figur, von dem ich ungeheuer viel erwartet habe. Schon am ersten Probentag kam er mit seinem Regieassistenten auf die Bühne, ein netter, liebenswürdiger alter Herr, und fragte ratlos: "Ja, Herr Gedda steht auf der Bühne, singt eine halbe Stunde. Was soll ich denn mit ihm machen?" Trotzdem hoffte ich, daß er ein Konzept hat. Keine Spur, er hatte im Grunde keine Ahnung, das hat er auch selber zugegeben. In Göran Genteles "Maskenball", in der sog. Schwedischen Fassung, habe ich den König Gustav gesungen. Ich bin nicht so weit gegangen wie mein Kollege Ragnar Ulfung, der ihn sehr ausgeprägt als Homosexuellen gezeichnet hat. Ich hielt das für falsch, wir haben schließlich eine Kompromißlösung gefunden. Eine erfolgreiche Arbeit war die Londoner Inszenierung von Berlioz‘ "Benvenuto Cellini", eine Regie von John Dexter, ein großer Erfolg "Hoffmanns Erzählungen" in der Inszenierung von Patrice Chéreau. Chéreau ist ein sehr gründlicher Regisseur, die Figur des Hoffmann hat er mit mir bis ins Detail erarbeitet. Er verstand Hoffmann als Versoffenen, seine Träume sind Alpträume eines Alkoholikers. Die Figur war sehr interessant zu spielen. Problematisch war nur Chéreaus Arbeitseinteilung. Er kam zu spät, beschäftigte sich oft ausführlich mit einem bestimmten Detail und geriet in Terminschwierigkeiten. Die Olympia war eine Puppe mit sehr komplizierter Technik, mit elektronischer Steuerung. Sie kostete die Pariser Oper dreißigtausend Dollar und funktionierte in der Premiere nicht. Wirklich gelungen war dann die dritte Reprise. Chéreaus Inszenierung war echtes Musiktheater. Unglücklich war ich mit Lavellis Regie von Gounods "Faust" in Paris. Daß ein Sänger spielen soll wie ein Schauspieler, halte ich für richtig. Aber es sollte nicht gegen die Musik geschehen, das ist ein falscher Weg zum Musiktheater. Ich hoffe, daß diese modischen Strömungen eine vorübergehende Erscheinung sind. Für fatal halte ich, welche Sitten in die Oper eingebrochen sind, daß es sich manchmal zuträgt wie in einem Zirkus. Wenn ich in einem Theater singe oder als Zuschauer sitze, befinde ich mich in einem Tempel der Kunst. Dementsprechend versuche ich mich zu benehmen. Aber dieses Geschrei und die Buhrufe, ich glaube Parma hat zu viel Publizität bekommen, dort herrschen solche Zustände. Wenn einem etwas nicht gefällt, reicht es dann nicht, einfach nicht zu applaudieren?

Aber zurück zu den Regisseuren. Ich sagte, daß Französisch schon auf dem Gymnasium meine Lieblingssprache gewesen ist. Damals hat man in Stockholm die schönen alten französischen Filme gezeigt, Werke von großen Regisseuren wie Carné, Duvivier, Clément u.a. Ich hatte einen Schulfreund, der die Literatur über französische Filme gesammelt hat. Wir waren fasziniert von diesen Meisterwerken der dreißiger Jahre. Jean-Louis Barrault habe ich in den Filmen gesehen, als ich noch Gymnasiast war. Mit diesem Mann dann auf der Bühne zu stehen und in der Oper zu arbeiten war ein kaum faßbares Ereignis für mich. Barraults erste Inszenierung war Gounods "Faust" an der Met. Als Opernregisseur war er leider nicht sehr überzeugend. Einige Jahre später war diese Inszenierung, die in New York nicht gut ankam, in Mailand und Rom schließlich ein großer Erfolg. Meine nächste Arbeit mit Barrault war "Carmen", auf die ich mich sehr gefreut habe. Es war 1967, auch an der New Yorker Met. Die Bühnenbilder waren ein Skandal, Barraults Regie mißlungen. Er verlangte vom Chor z.B. zur Musik kleine Schritte, er sollte sich fast tänzelnd bewegen. Als Barrault es vorgemacht hat, wirkte die Sache überzeugend, er ist ja auch ein großer Pantomime. Aber beim Chor sah die Realisation ziemlich lächerlich aus. Der Carmen, Grace Bumbry, verlangte er eine ziemlich aufgesetzt und künstlich wirkende Erotik ab. Escamillo kam bei ihm kaum vor, er ging einfach unter. Vielleicht war auch ich nicht der richtige Typ für den José, ein Südländer hätte es sein sollen. Die Kritiken waren niederschmetternd. Ich werde es nie vergessen, wie gemein sich Rudolf Bing auf der Premiere Barrault gegenüber benommen hat. Dirigent, Bühnenbildner und Barrault gingen zu dritt vor den Vorhang. Buhrufe. Wir Sänger blieben verschont. Aber Bing bestand darauf, daß Barrault auch allein vor dem Vorhang erscheint. Er wollte nicht, Bing hat ihn regelrecht hinausgeschoben. Wenn aus der Kehle von viertausend Menschen Buhrufe kommen, so ist das ziemlich schauderlich. Dieser große Mann tat mir in diesem Moment sehr leid.
 


Nicolai Gedda und Hjördis Schymberg in Adams "Postillon von Lonjumeau"






In der Titelrolle von Wagners "Lohengrin" an der Stockholmer Oper(1966).

In der "Carmen"-Aufnahme unter Beecham hat mich in Ihrer sängerischen Darstellung des José die Wandlung der Figur sehr beeindruckt, wie dieser Junge vom Lande in eine Konstellation gerät, aus die er nicht mehr heraus kann.

Das kann man auf der Schallplatte, wo man die Figur nicht sieht, einfacher machen als im Theater. Es fiel mir auf, wie wenig flexibel französische Sänger auf einen Dirigenten reagieren, einige wenige ausgenommen. Sie machen es so, wie sie es seit zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren gemacht haben, Abweichungen von ihren Tempi bringen sie schon außer Kontrolle. Es gab bei dieser "Carmen"-Aufnahme Szenen mit Beecham, die mir unvergeßlich bleiben.
 

Bei Schallplattenaufnahmen zu Webers "Euryanthe"
Konnte man von seinem fast legendären Sarkasmus etwas mitbekommen?

Oh ja. Man hat ihm z.B. den Kinderchor vorgeführt, und er schickte ihn gleich nach Hause, mit der Begründung "they look too stupid", er hat sie gar nicht angehört, weil sie für ihn zu blöd aussahen. Es war nicht angenehm. Außerdem mischte sich die kranke Lady Beecham andauernd ein. Diese Szenen hätte man auf Video aufnehmen müssen. Er war ein fast skurriles Original, aber ein herrlicher Dirigent. Bei dieser Aufnahme, ich war noch sehr jung, habe ich den Unterschied zwischen einem großen Dirigenten und einem Kapellmeister richtig begriffen. Die meisten haben Angst vor langsamen Tempi, sie fürchten, daß sie langweilig werden. Nicht Beecham, dessen Tempi manchmal sehr langsam waren, aber nie langweilig. Auch bei Klemperer nicht. Unter den Großen habe ich noch Cluytens, Giulini, Rodzinski, Markévitch erlebt, leider nicht mehr Furtwängler, Bruno Walter oder Toscanini.

Hat es in Ihrer Laufbahn Krisen gegeben?

Schwere, die meine Laufbahn gefährdet hätten, Gott sei Dank nicht. Da ich kein extrovertierter Mensch bin und ziemlich viel Komplexe und Hemmungen hatte, war ich auch zu scheu. Auf der Bühne war ich kein starker Darsteller, keine schauspielerische Persönlichkeit. Ich mußte alles mühsam erarbeiten. Am schwersten fiel mir, statische Figuren glaubhaft zu machen. Don Ottavio war für mich z.B. anfangs sehr schwer, ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Belmonte kann ich bis heute nicht richtig darstellen, ich habe stets das Gefühl, ich stehe auf der Bühne und bin langweilig. Sehr früh habe ich dann doch eine Lösung für den Ottavio gefunden: man muß ihn männlich und resolut gestalten. Das hat auch funktioniert, das Singen ging ja von selbst. Auch als Lenski habe ich das früh begriffen. Stanislawski empfahl den Tenören, die Figur nicht larmoyant zu gestalten. In der Musik ist schon genug vorhanden, wenn der Sänger sie noch sentimentalisiert, wird es unerträglich. Lenski muß auch ein männlicher Typ sein. Das war die Lösung. Aber Belmonte habe ich darstellerisch nie in den Griff bekommen. Mit Faust hatte ich auch meine Probleme. Ich habe gesucht und gesucht, aber bei Gounod ist ja nichts von Goethe vorhanden.
 
 

Als Belmonte in Mozarts "Entführung" in Stockholm (1956)

Als Don Ottavio in Mozarts "Don Giovanni"

Eine Rolle, in der es mir leichter fiel, den scheuen jungen Mann, der ich war, zu vergessen, in der ich mich auch entwickelt habe, war der Hoffmann. Zu einer freien Gestaltung der Figur gelangte ich in der erwähnten Chéreau-Inszenierung. Deshalb habe ich es sehr bedauert, daß ich zum Zeitpunkt der Fernsehaufnahme krank war und nicht mitwirken konnte. Chéreau war mit der Figur, die ich darstellte, sehr zufrieden. Wir haben uns ohnehin sehr gut verstanden.

Gerne denke ich an den Benvenuto Cellini in London zurück. Eine interessante Rolle, obwohl die Oper nach meinem Empfinden nicht ganz geglückt ist. Ausgezeichnet konnte ich mit dem Dirigenten Colin Davis arbeiten. Zum ersten Mal kamen wir in einer konzertanten Aufführung des "Idomeneo" zusammen. Nach dem "Benvenuto Cellini" habe ich mit ihm auch "Fausts Verdammnis" und "Cosi fan tutte" auf Schallplatten aufgenommen und viele Konzerte unter ihm gesungen. Ein feiner Mensch, ein hervorragender Dirigent. Sehr gerne habe ich auch mit George Prêtre gearbeitet, ein schwieriger Künstler, aber vorzüglicher Musiker. Ich habe mit ihm eine meiner besten Aufnahmen, den "Werther", 1968 mit Victoria de Los Angeles und dem damals neu organisierten Orchestre de Paris aufgenommen.
 
 

Tamino in Mozarts "Zauberflöte" in Stockholm (1956)

In Mozarts "Idomeneo" mit Elisabeth Söderström in Stockholm

Sie haben viele Schallplattenaufnahmen gemacht. Aus der zeitlichen Distanz können Sie vielleicht eine Auswahl treffen. Welche halten Sie für die gelungensten?

Alle meine Aufnahmen bei der EMI halte ich für wertvoll. Weil sie meist von Walter Legge produziert worden sind. Er wird in die Schallplattengeschichte als einer der größten Produzenten eingehen. Wenn ich z.B. an die Operetten denke, die ich mit ihm aufgenommen habe, sie waren schon eine Klasse für sich. Selbst jetzt kann man sie noch anhören und Freude an ihnen finden. Alles, was ich mit Walter gemacht habe, auch die Matthäus-Passion unter Klemperer, die Opern, ist aus meiner Sicht eine Großtat. Viel Freude hatte ich mit der deutschen Electrola, ab 1964, an der Zusammenarbeit mit Helmut und Gisela Storjohann. Wir haben nicht nur eine Reihe von Operetten aufgenommen, sondern auch deutsche Opern. Zum Beispiel mit Robert Heger "Zar und Zimmermann". Ich hatte nie Bedenken, etwas Neues zu lernen, im Gegenteil. Ein für mich zum Teil unbekanntes Repertoire für Schallplattenaufnahmen zu lernen, fand ich wunderbar. Große Freude bereiteten mir auch Stücke wie "Ciboulette" von Reynaldo Hahn, es ist wie Offenbach, nur aus den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts. Eine typische Pariser Geschichte. Ciboulette ist ein bißchen wie die Elisa, der Tenor ein junger, unglücklicher Liebhaber. Eine leichte, aber feine Musik, gar nicht leicht zu singen. Auch die Mitwirkung an der Gesamtaufnahme von Faurés Werken für Orchester hat mir viel Freude bereitet.
 
 

Schallplattenaufnahmen

Sind Schallplatten eine authentische Information über Stimmen? Die jüngere Generation hat ja nur diese Möglichkeit, sich über Sänger früherer Zeiten zu informieren.

Eigentlich sind sie es nicht. Schlimm finde ich, wenn junge Sänger von Platten lernen und einen Sänger, den sie bewundern, imitieren. Das ist sehr gefährlich. Man muß als Sänger vor allem fühlen, ob ein hoher Ton richtig kommt, richtig sitzt. Hören kann man das kaum, nur fühlen, denn man hört sich selbst immer falsch. Dazu braucht es Zeit, viel Zeit.
 
 

Ernesto in Donizettis "Don Pasquale" an der New Yorker Met

Als Nemorino in Donizettis "Liebestrank" in Wien

Der englische Schallplattenforscher Steane schreibt in seinem Buch, daß Ihre Aufnahmen charakteristisch Ihre momentane stimmliche Disposition oder die Auffassung eines Dirigenten widerspiegeln. Er erwähnt Ihre Mozart-Aufnahme mit Klemperer. Davor haben Sie, wie er schreibt, die Bildnis-Arie des Tamino aufgenommen, die in der Nuancierung, im sängerischen Detail beispielhaft ist, während in der Klemperer-Aufnahme die Arie von Ihnen mit mehr Pathos gesungen wird, wahrscheinlich auf Wunsch des Dirigenten.

Beabsichtigt war es nicht. Die Aufnahme der "Zauberflöte" war ziemlich problematisch, denn damals knisterte es schon zwischen Klemperer und Legge. Wir waren auch nicht froh darüber, daß Klemperer keine Dialoge aufnehmen wollte, nur die Musiknummern. Aber die Dialoge hängen mit den Arien eng zusammen, der Einstieg in die Arie fällt einem ohne sie schwerer. Ich muß sagen, daß die Atmosphäre bei den Aufnahmen nicht sehr erfreulich gewesen ist. Das mag die Leistungen beeinflußt haben. Ich selbst halte diese Klemperer-Aufnahme nicht für geglückt. Er hat uns Sängern bei den Proben über seine Konzeption nicht viel mitgeteilt. Seine Auffassung war, so könnte man es sagen, monumental, es ging in Richtung Beethoven. Was ich bei dem großen Dirigenten, den ich so verehrt habe, in diesem Falle vermißte, war die Detailarbeit. Ich persönlich war damals stimmlich in bester Form.

In der Aufnahme von Puccinis "La Bohème" unter Schippers gestalten Sie den Rodolfo als eine temperamentvolle, leidenschaftliche Figur.

Mit meiner Meisterin Paola Novikova habe ich in New York jede Phrase, jeden Ton dieser Partie erarbeitet. Die Aufnahme war ein großer Erfolg. Die Mimi sollte ursprünglich Victoria de Los Angeles singen, aber sie erkrankte, so ist die blutjunge Mirella Freni eingesprungen. Sehr gefreut habe ich mich über die Meinung von Paolo Montarsolo, den ich als Darsteller und denkenden Sänger sehr schätze. Er sagte mir, kein Italiener hätte vor mir den Rodolfo so nuanciert, so ganz auf den Text bezogen gesungen wie ich. Jedes Wort, jedes Komma hatte seinen Sinn, es waren nicht bloß musikalische Phrasen ohne Textinterpretation. Ich kann nur wiederholen, daß ich großes Glück hatte, Frau Novikova zu treffen, diese große Repräsentantin der Belcanto-Tradition unter den Gesangslehrern.


Dreimal Herzog in Verdis Rigoletto: in Stockholm, Budapest und an der Deutschen Oper Berlin




Steane erwähnt Ihre Aufnahme von "Una furtiva lagrima" als ein glänzendes Beispiel der großen Kunst des Belcanto. Es ist überliefert, daß die großen italienischen Opernkomponisten stets mit ihren Sängern gefochten haben, um eine nuancierte Interpretation zu erreichen.

Der große Verdi verlangt ja im Requiem an einer Stelle sechs p-s als Dynamik. Ich finde schon ein pianissimo müßte reichen, aber sechsmal ein p? Ich glaube, er war wütend auf die Sänger und hoffte, daß er auf diese Weise ein pianissimo erreichen kann. Aber ich kann auch die Sänger verstehen, wir sind ja alle Menschen. Zum Beispiel: Die erste Arie des Cavaradossi in Puccinis "Tosca". Puccini verlangt ein pianissimo, fast die Hälfte der Arie bewegt sich im piano-Bereich. Aber das hört man nie. Es ist sehr schwer, die Arie so zu singen. Aber Komponisten haben Vorstellungen, die manchmal kaum zu verwirklichen sind. Warum mußte der große Verdi für einen schweren Tenor die "Celesta Aida" gleich an den Anfang stellen und noch dazu piano ausklingen lassen? Man kann diese herrliche Arie kaum hundertprozentig gut singen. Die Cavaradossi-Arie ist als eine piano-Meditation gedacht. In der Realität ist sie so nicht machbar. Erstens ist es der erste Auftritt, ein Sänger muß auch zeigen, daß er Stimme hat. In den meisten Inszenierungen steht der Cavaradossi bei dieser Arie am Altar, in irgendeiner Ecke der Bühne. Jeder Sänger hat Angst, daß man ihn nicht gut genug hören kann. Deshalb wird diese Arie fast immer gebrüllt. So sieht es in der Praxis aus. Es ist manchmal sehr schwer, den Vorgaben der Komponisten zu folgen, sie korrekt zu realisieren. Man muß auch hinzufügen, daß ein piano bei Puccini etwas anderes bedeutet als bei Mozart. Wer wagt schon in "Celesta Aida" ein B pianissimo zu singen? Es gibt italienische Dirigenten, die der Meinung sind, es sei ein Druckfehler. Aber es ist ja alles morendo im Orchester.

Kann man überhaupt das B piano singen?

In einem Theater mit herrlicher Akustik und in großartiger stimmlicher Disposition. Aber in den Caracalla-Thermen oder in der Arena von Verona kann man es vergessen, da muß es gebrüllt werden.


Gustav III. in Verdis "Maskenball", Szene aus der Gentele-Inszenierung an der Stockholmer Oper



Gustav III. in "Maskenball" in Stockholm
Aufführungsstätten wie die Arena von Verona verführen ja einen Sänger dazu. Man kann dort gar nicht anders singen.

Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Die Arena von Verona und besonders die griechischen Amphitheater haben eine wunderbare Akustik. Die Brüllerei hat nichts mit der Akustik zu tun, man hört in diesen Theatern jedes Flüstern. Wenn eine Stimme richtig sitzt, kann man in Verona jedes piano hören. Etwas anderes ist der Geschmack der Zuschauer. Diese Touristenmassen wollen große Stimmen hören. Und in Städten, wo die Leute an einem Abend einen Stierkampf sehen, am anderen die "Carmen" hören, ist ein nuancierter musikalischer Vortrag nicht gefragt. Sie wollen große, laute Stimmen. In der Arena von Verona muß der Trovatore ein Corelli sein. Und ich muß hinzufügen, ich bin auch dafür. Einen "Troubadour" möchte auch ich mit einer richtigen Trompetenstimme hören. Corelli wurde immer kritisiert, daß er zu laut singt, ohne Differenzierung. Aber er ist für diese Partien an diesen Orten der richtige Sänger. Auch Francesco Tamagno, Verdis erster Othello, hatte diese Trompetenstimme, sie war nicht sehr schön, aber sie hatte etwas Barbarisches. Eine Riesenstimme. Mein Lehrer Martin Öhman hat Tamagno an einem Galaabend in der Mailänder Scala gehört. Den Soldatenchor aus Gounods "Faust" haben alle zusammen gesungen, der Chor und die Solisten. Öhman sagte mir, er wird es nie vergessen, daß es geklungen hat wie ein Solo von Tamagno mit Begleitung. So mächtig und durchschlagskräftig war diese Stimme, ideal für den Othello.


Gustav III. in "Maskenball" in der Inszenierung von Göran Gentele in Stockholm

 
 
Bedauerlich ist nur, daß differenziertes Singen auch in den Opernhäusern kaum mehr erwartet wird. Liegt es am Verfall des Geschmacks?

Ich sehe es nicht so, denn ich merke, daß meine Art des Singens immer mehr Anhänger findet. Nehmen wir Amerika, New York. Ich kann von meinen Erfahrungen in konzertanten Aufführungen von Opern sprechen. Zum Beispiel "Benvenuto Cellini" von Berlioz. Der Tenor kann in dieser Oper alles zeigen, der Cellini ist eine mörderische Partie, mit einen hohen Des in piano, am Ende der Arie einem hohen C, forte. Im zweiten Akt mit einer Meditation, mit "floating pianissimi" auf B. Es ist meine Spezialität geworden, alles so zu singen, wie es in der Partitur steht. Das Publikum weiß es zu schätzen. Die Ovationen nach dieser Meditation galten nicht nur dem hohen Ton am Ende, denn es ist ja kein Reißer. Das finde ich erfreulich, in einem Saal mit dreitausend Zuhörern. Es erfüllt mich mit Genugtuung, daß meine Treue zu den Komponisten, die Art meines Singens geschätzt und auch verstanden wird. Vielleicht wollen die Leute dann am nächsten Abend einen Brüller hören, aber sie wissen auch meine Art zu schätzen. Sicherlich nicht in Südfrankreich. Wenn einer dort ein piano singt, meinen die Leute, er hat keine Stimme. Es wäre dort unvorstellbar, daß Don José in der "Carmen" seine Blumenarie im pianissimo beendet, wie es in der Partitur steht.
 
 


Gustav III. in London und an der Met
 

Ein Meister des kultivierten Singen war der dänische Sänger Axel Schiøtz. Haben Sie ihn gekannt?

Er war ein großer Stilist, ich habe alle Platten von ihm. Es gibt eine Ausgabe von dänischen Liedern mit ihm. Er konnte sogar in dieser unsingbaren Sprache sehr schön singen. Er war ein unvergeßlicher Schumann-Sänger, "Die Dichterliebe" mit ihm und Gerald Moore ist vielleicht die schönste Aufnahme, die ich kenne. Auch die "Schöne Müllerin" hat er auf Platten eingesungen. Gesehen habe ich Schiøtz nach seiner Operation, ihm wurde ein Tumor entfernt. Danach war die Stimme nie wieder so wie früher. Er war Leiter der Vocal division an der University of Colorado, außerhalb von Denver. Wir verbrachten einen Abend zusammen. Kurz danach ist er gestorben. Er war ein Stilkenner ohnegleichen.

Die Programme Ihrer Liederabende haben Sie in den letzten Jahren nach spezifischen Gesichtspunkten zusammengestellt, indem Sie auf ein unbekanntes Gebiet der Liedliteratur aufmerksam gemacht haben, auf Lieder von Komponisten, die fast nur als Opernkomponisten bekannt sind. Diese Lieder liegen sozusagen im Zwischenbereich zwischen Lied und Opernarie.

Der Gedanke kam mir, als vor einiger Zeit auch Opernhäuser Liederabende in ihre Programme aufgenommen haben. Ich dachte mir, man sollte in einem Opernhaus etwas anderes zeigen als ein gewöhnliches Lied-Repertoire. Lieder von Gounod habe ich schon lange gesungen, dann lernte ich Lieder von Rossini, Verdi u.a. kennen. Ich möchte meine Konzertprogramme nach einem Leitfaden, um einen zentralen Gedanken aufbauen. Für meine Konzerte in Opernhäusern dachte ich, man müßte bei Komponisten etwas suchen, die nur durch ihre Opern bekannt sind. So kam ich auf Bellini, Donizetti, Gounod, Bizet, Rossini, Verdi. Ich suchte auch bei Wagner, von ihm kennt man ja nur die Wesendonk-Lieder. In der Musikakademie in Stockholm fand ich eine alte Ausgabe von Liedern Wagners. Er hat als ganz junger Mann einige auf französische Texte komponiert, noch unter dem Einfluß von Meyerbeer. Da entdeckte ich ein langes Lied, "Die zwei Grenadiere", für eine tiefere Stimme. Ich finde das Lied sehr interessant, es paßt auch als Kontrast sehr gut in ein italienisches Programm. In meinen Konzerten in Opernhäusern singe ich nie Arien, ich bin kein Freund von Arienabenden mit Klavierbegleitung. Die Kanzonen und Romanzen italienischer Opernkomponisten bilden eine spezifische Literatur, komponiert wahrscheinlich für ihre favorisierten Sänger. Es ist auch kaum bekannt, daß Gounod ein reiches Oeuvre von Liedern komponiert hat. Auch Bizet war ein interessanter Liedkomponist, obwohl der große französische Bariton Pierre Bernac sie in seinem Buch über das französische Lied als unbedeutend bezeichnet. Ich teile diese Meinung nicht.
 

"Mein Ziel war immer eine lange Karriere"

Herr Gedda, nach Ihrem erfolgreichen Debüt wurden Sie in kurzer Zeit berühmt. Ihre internationale Karriere verlief ohne tiefere Krisen. Was bedeuten für Sie Ruhm und Erfolg?

Erfolg ist ein herrliches Gefühl, in der Mischung von Zufriedenheit und Glück. Ich habe bei allen meinen Erfolgen dennoch nie vergessen, daß ich von Gott eine Gabe bekommen habe. Mein erster Gedanke nach einem erfolgreichen Abend ist Dankbarkeit gegenüber meinem Vater, es wäre ja so wunderbar gewesen, hätte er zum Beispiel meine Konzerte in Rußland erleben können. Was ich zuallererst empfinde, ist Dankbarkeit, daß ich schon als Kind an die Musik herangeführt wurde, daß sich meine natürliche, angeborene Musikalität entwickeln konnte. Ich hatte kein absolutes Gehör, aber es hat sich dorthin entwickelt, weil ich so viel in a-cappella-Chören gesungen habe. Neben der Dankbarkeit empfinde ich die Verantwortung, daß ich meine Begabung pflegen und entwickeln muß. Versuche ich etwas Neues, und es wird ein Erfolg, denke ich an die Verpflichtung, daß ich weiterarbeiten muß, an mir selbst, an der Stimme. Ruhm ist mir, Gott sei Dank, nie in den Kopf gestiegen. Mein Ziel war immer, eine lange Karriere zu haben, über lange Jahre zu singen. Leider ist für viele Künstler Publicity, der Kult um ihre Person wichtiger als die Kunst.

Die künstlerische Ethik eines Sängers ist auch eine Frage der menschlichen Entwicklung. Sie sprachen von der Bereicherung, die Sie von der Literatur, der russischen im besonderen, erhalten haben.

Leider fand ich noch nicht die Zeit dazu, viele andere Meisterwerke der Literatur zu lesen. Auch die Philosophie hat mich immer interessiert, bedauerlicherweise konnte ich mich mit den großen Philosophen noch nicht beschäftigen. Mit den Griechen – Sokrates, Platon – schon, auch mit Schopenhauer. Ich möchte ja auch alles in der Originalsprache lesen. Man stellt sich wiederholt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Bei den alten Griechen bekommt man viele Antworten. Aber dazu braucht es viel Zeit, und dieser wunderbare Sängerberuf nimmt einen voll in Anspruch.

Kommen wir zurück zur Musik. Sie haben – den Stockholmer "Lohengrin" ausgenommen – um Wagner einen Bogen gemacht, was Sie sicherlich nicht bereut haben.

Nein. Ich beneide die Sänger nicht, die einen Tannhäuser oder Siegfried singen müssen. Es gab Zeiten, wo es mehrere exzeptionelle Wagner-Tenöre gab, in den vierziger und fünfziger Jahren. Heute fehlen solche Stimmen. Vielleicht stirbt die Schule, die Tradition aus. Auch jene Art von Sängern, die zu Bellinis Zeiten à la mode waren, gibt es heute nicht mehr. Wie hat man damals gesungen? Wir wissen es nicht. Ich kann mir vorstellen, daß eine Stimme wie der Patti ganz klar, aber ohne Obertöne geklungen hat. Eine Jenny Lind hat, glaube ich, instrumental gesungen, kristallklar, mit einem geraden Ton. Das war damals das Optimum. Heute wollen wir Timbre, Obertöne. Es gibt ja eine berühmte Geschichte mit Dupré, er war der Erste, der ein hohes C ohne Falsett, mit Bruststimme gesungen hat. Er hat Rossini vorgesungen. Rossini sprang auf und ging in das Nebenzimmer, weil er vermutete, daß seine Kristallvasen zersprungen sind. Er fand diesen hohen Ton gar nicht schön. Aber wie hat Dupré geklungen? Ein Nourrit z.B. besaß sicher eine klare, fast gerade Stimme, die hohen Töne hat er wahrscheinlich ohne Stütze gesungen. Man sang die hohen Töne falsett, aber mit einer Technik, die ausgestorben ist. Italienische Komponisten wie Caccini waren auch Gesangslehrer, sie hatten sicher eine phantastische Technik. Auch ein Rubini. Die Theater waren ja in Italien ziemlich groß. Diese Sänger müssen mit einer Technik gesungen haben, die im Laufe der Zeit verlorengegangen, ihre Tradition erloschen ist. Vielleicht ist es ähnlich mit dem Wagner-Gesang. Wagner kann man ohne perfekte Technik nicht singen, sonst gehen die Stimmen kaputt.
 
 

Welche waren für Sie die Grenzpartien?

Mit den Jahren wird die Stimme reifer, auch ein bißchen dunkler. Es gibt leider viele Kollegen, die das wahrnehmen und deshalb schwerere Partien übernehmen. Aber sie singen sie oft mit dem Einsatz des Instruments, der Stimme, aber nicht mit der entsprechenden Technik. Es ist auch die Verantwortung von Dirigenten und Regisseuren, die von einem Sänger dunklere Farben, größere Dramatik verlangen. Sänger, die diesem Wunsch nur mit dem stimmlichen Material entgegenkommen, sind gefährdet. Man darf Vokale, Phrasen nicht mit der Stimme allein dunkler machen oder dramatischer gestalten. Da muß der ganze Apparat richtig arbeiten. Daran denken die meisten gar nicht. So werden Muskeln belastet oder der Gaumen, viele erweitern die Mittellage, erreichen dies mit Hilfe des Gaumens. Und die Höhe wird forciert. Das kürzt das Leben eines Sängers.

Was mich betrifft: Man hat mich z.B. zum Arrigo in "Vespri siciliani" überredet, aber das war nichts für mich. Der Arnoldo in "Wilhelm Tell" ist auch nicht meine Sache. Ich habe diese Partien ein paar Mal gesungen, aber nie wieder, sie gingen über meine Grenzen. Oder der Hermann in "Pique Dame": die ganze Partie, in Ordnung. Aber wo er alles beschwört, um das Geheimnis der drei Karten zu finden, da geht es richtig los. Da merkte ich, das muß ein Vickers oder ein Domingo singen, mit viel mehr Material als mir zur Verfügung steht. Es ist einfach nicht genug, was ich in dieser Partie zu bieten habe. Grenzpartien sind für mich Cavaradossi, Hoffmann oder José, der eigentlich über zwei Stimmen, eine lyrische und eine dramatische, verfügen muß.
 
 


Lenski in Tschaikowskys "Eugen Onegin" in Stockholm - Hermann in "Pique Dame" an der New Yorker Met - in Glucks "Orpheus" in Wien



Wie merkt ein Sänger seine Grenzen? Gibt es Warnsignale, bis dahin und nicht weiter?

Bei einem Tenor ist es die Höhe. Wenn die Höhe nicht in Ordnung ist, macht er etwas falsch. Auch wenn er Probleme hat, piano zu singen. Am schlimmsten ist ein Knicken bei einem G oder A, bei einem Übergangston. Dann ist die kritische Situation bei ihm akut. Kritisch kann es werden, wenn sich ein Bariton dazu entschließt, ins Tenorfach zu wechseln, weil er die Höhe hat. Aber es geht ja nicht um einzelne Töne, sondern um die hohe Lage seiner Partie.

Eine allgemeine Erscheinung auf den Opernbühnen ist die mangelhafte Textverständlichkeit. Es hat sicher etwas mit Technik zu tun.

Ja, auch. Mein Lehrer Martin Öhman hatte eine beispielhafte Diktion, er schimpfte immer, wenn nicht jeder Konsonant, jeder Buchstabe verständlich war. Die Konsonanten helfen, sagte er, sie müssen gehört werden.
 
 

Über die Kunst des Singens

Was halten Sie für das Wichtigste in der Technik des Singens?

Es ist sehr wichtig, wie der Sänger sein Instrument auffaßt. Frau Novikova hatte recht, als sie sagte, die Stimme, der Körper, der gesamte "Apparat" des Sängers sei wie ein Blasinstrument, und so muß man ihn auch behandeln. Man muß atmen, Lust holen und dazu fähig sein, mit der Luft zu "spielen". Dann ist der Sitz der Stimme, die "Maske" sehr wichtig. Ich bemerke bei jungen Sängern, mit denen ich leider nur sporadisch arbeiten kann, immer wieder Körperspannungen, die nicht nötig sind, Muskelarbeit, die schädlich ist. Fast jeder junge Sänger hat irgendwelche Komplexe und verändert häufig seine ganze Körperhaltung beim Singen. Das sollte nicht sein. Die unnötigen Spannungen wegzubekommen, ist eine langwierige Arbeit. Ein guter Lehrer muß auch ein guter Psychologe sein, und ich glaube, ich bin einer. Deshalb ist es meine Absicht, zu unterrichten, es macht mir viel Spaß. Es ist ja ein herrliches Gefühl, wenn mir Sänger, mit denen ich vielleicht zwei- oder dreimal gearbeitet habe, begeistert schreiben, daß sie ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen haben, ihre Stimme habe sich stabilisiert usw. Und was könnte schöner sein, als die eigenen Erfahrungen, das Erworbene der nachfolgenden Generation weiterzugeben? Ich darf auch sagen: Ich habe Geduld, Einfühlungsvermögen und das nötige Wissen dazu.

Herr Gedda, Ihr Singen, Ihre kluge Karrieregestaltung ist der Beweis dafür, daß Kunst vom Können kommt. Sie sind ein wissender Sänger. Wissen und Gewissen, Verantwortung gegenüber der eigenen Begabung scheinen heute nicht sehr hoch im Kurs zu stehen.

Ich habe von Glück mit meinen Lehrern gesprochen. Hinzufügen möchte ich, daß unsere Generation, die nach dem Krieg begonnen hat, sich in der glücklichen Situation befand, daß die fünfziger Jahre die beste Zeit waren. Man hat mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg begonnen, es herrschte Aufbruchstimmung. Und das Leben war nicht teuer, es war für einen jungen Gesangsstudenten viel leichter zu studieren und zu leben als heutzutage.
 
 


Liederabend mit Alexis Weissenberg am Klavier



Wollen Sie damit sagen, daß es junge Sänger heute schwerer haben?

Viel schwerer. Wenn heute z.B. ein junger schwedischer Sänger nach Wien reisen möchte, kostet ihn das schon mehrere tausend Mark. Selbst wenn er sehr bescheiden lebt, ist es immer noch sehr viel, allein schon die Reise selbst, das Mehrfache von dem, was wir damals ausgeben mußten. Ich kann auch von Glück reden, daß ich zur rechten Zeit angefangen habe. Trotz aller Probleme, die sie haben, versuche ich jungen Leuten klarzumachen, daß sie das Wissen um das Singen nicht in ein paar Tagen lernen können. Wenn sie mich fragen, Sie singen diesen Ton so schön, wie machen Sie das, so kann ich Ihnen das in kurzer Zeit erklären. Ich muß aber hinzufügen: Sie können es im Zimmer mir sogar nachmachen, aber auf der Bühne wird es nicht geben. Es braucht Monate, um zu begreifen, was Sie zu tun haben. Dann muß es unbewußt, selbstverständlich werden. Auf der Bühne hat ein Künstler an ein halbes Dutzend andere Dinge zu denken, da hat er keine Zeit, sich mit seiner Technik zu beschäftigen. Es muß alles automatisch, von selbst kommen, und das braucht Zeit, viel Zeit. Eine Ausnahmeerscheinung ist Birgit Nilsson, die stets behauptet hat, daß ihre Lehrer ihre Stimme fast zerstört haben. So hat sie ihre eigene Methode erarbeitet. Aber sehen Sie sich diese große Sängerin an, mit diesem Körperbau, dem enormen Brustkorb, deine grandiose "cassa harmonica", ihr Hals ganz offen. Sie hat von Maske ihre eigene Vorstellung. Sie macht den Mund bloß auf, und es kommt diese von Gott gegebene Riesenstimme, von den phantastischen Stimmbändern. Man merkte ihr auf der Bühne überhaupt keine Anstrengung an, keine unnötige Muskelverspannung, sie machte alles völlig natürlich. Es gab auch andere schwedische Sänger mit dieser natürlichen Begabung.

Es scheint eine "nordische" Spezialität zu sein. Es kommt ja nicht von ungefähr, daß so viele hervorragende Sänger aus dem skandinavischen Raum kommen.

Birgit Nilsson ist eine singuläre Erscheinung, ein Naturwunder. Ich halte sie für eine noch größere Sängerin als Kirsten Flagstad. Bei den tiefen Männerstimmen findet man in Schweden Naturbegabungen, die selbst noch in ihren späten Jahren singen. Aber kaum Tenöre. Eine Tenorstimme ist ja nicht normal, die hohe Stimme ist für einen Mann ziemlich unnatürlich. Deshalb muß man mit der Stimme so konsequent arbeiten. Denkt man an die italienische Schule: Was ist aus ihr geworden? Sicher, Bergonzi lebt in Mailand, ein Sänger, den ich auch als einen großen Techniker verehre. Er sagt ja, Technik ist für einen Sänger das Wichtigste, um lange singen zu können. Und wie lange hat Bergonzi gesungen! Das ist das Ergebnis der Technik. Aber die italienische Schule? Wen gibt es außer Bergonzi? Luciano Pavarotti, sonst keinen. Wo sind die italienischen Tenöre auf dem Niveau eines Schipa oder Gigli? Pavarotti ist ein wunderbarer Sänger, mit herrlicher Stimme und entsprechender Technik. Aber er ist eigentlich der Einzige in seiner Klasse. Es gibt sicherlich mehrere gute Tenöre, aber in dieser Kategorie? Domingo natürlich, auch Carreras, und vor allem Kraus, aber sie sind Spanier.
 
 
Alfredo Kraus ist neben Ihnen das andere leuchtende Beispiel dafür, wie man mit perfekter Technik und kluger Ökonomie die Stimme über Jahrzehnte intakt erhalten kann. Unter anderem, weil er nie im falschen Fach gesungen hat, wie es heute viele Sänger tun.

Das hat es schon immer gegeben. Weil Sänger, die im schweren Fach singen, besser bezahlt werden. Ich hatte diesbezüglich mein eigenes Prinzip. Ich wollte immer, während meiner ganzen Karriere, einen guten Don Ottavio, einen guten Mozart singen, die Leichtigkeit dieser Partien bewahren. Der Belmonte ging auch ganz gut. Man kann diese Partie mit 55 Jahren noch singen, wie ich es getan habe, aber man fühlt sich nicht mehr so wohl in der Rolle wie mit 45. Denn auch die Muskeln werden älter.

In den sechziger Jahren hieß es, in Bayreuth wolle man mehr lyrische Stimmen in Wagner-Partien einsetzen. Ich dachte mir, die sagen das, weil es einen Mangel an schweren Tenören gibt. Die Zeiten von Suthaus, Lorenz, Melchior waren vorbei. Und weil "the show must go on", nimmt man halt lyrische Stimmen, die in den schweren Partien verdorben werden. Man hat mich damals überredet, in Stockholm den Lohengrin zu singen. Ich dachte, in Rußland hat ja ein Sobinoff den Lohengrin gesungen, ein lyrischer Lenski.


Mit seinen Auszeichnungen auf einem Empfang in Stockholm

Der Lohengrin ist ja eine lyrische Tenorpartie.

Ja schon, aber da gibt es Unterschiede. In Rußland gab es die Tradition, seit man dort Wagners Opern aufgeführt hat, daß der schöne Held Lohengrin auch eine silberne lyrische Stimme haben soll. Sogar ein so ausgesprochen lyrischer Tenor wie Iwan Koslowski hat den Lohengrin im Bolschoi-Theater gesungen. In Rußland ist man daran gewöhnt, aber nicht im deutschsprachigen Raum, hier will man eine Heldenstimme, eine männliche Stimme in allen Wagner-Partien hören. Obwohl Lohengrin eine Belcanto-Partie ist. Ich habe ihn mit Öhman studiert. Immerhin hatte ich schon eine dreizehnjährige Sängerkarriere hinter mir, habe u.a. schon Hoffmann und Faust gesungen. Drei Mal stand ich als Lohengrin auf der Bühne der Stockholmer Oper. Ich sollte zu dieser Zeit mit Krips eine Aufnahme der "Entführung" machen, eine Aufnahmesitzung lag sogar zwischen zwei "Lohengrin"-Terminen. Ich merkte, daß ich Schwierigkeiten bekam, um für den Belmonte die Leichtigkeit und Flexibilität zu finden, die ich immer gehabt habe. Ich habe die Aufnahme mit Anstand geschafft, aber ich bin es nicht, es ist nicht meine richtige Stimme. Es fehlt auch die sog. Baumeister-Arie, aber die wollte Krips nicht haben. Ich merkte, daß der Lohengrin meiner Stimme nicht gut tat. Ich kann auch sagen, warum: Weil die ganze Partie des Lohengrin sich nur in der Mittellage bewegt. Sie ist sehr schön geschrieben, aber die Stimme muß immer in der mittleren Lage eingesetzt werden. Es geht ja nicht höher als bis zum A. Man muß mit der Stimme durch das Orchester, das Blech durchkommen. Was geschieht? Selbst wenn man nicht forciert, muß man mehr Kraft geben, die Muskeln werden belastet, und es kommt zu Spannungen. Die empfindsamen Melodiebögen des Belmonte kommen einem dann nicht mehr so leicht aus der Kehle. Nach meinem Lohengrin-Debüt in Stockholm kam gleich eine Einladung nach Bayreuth. Alle, auch die Schallplattenleute, wollten mich zum Lohengrin überreden, mit dem Argument, in Bayreuth sei die Akustik so herrlich, das Orchester sitzt verdeckt im Graben usw. Aber das sind eben Leute, die nichts von einer Stimme verstehen. Ich will ihnen keine böse Absicht unterstellen. Sie können beurteilen, ob eine Stimme schön klingt, aber sie wissen über die ganzen psychologischen Dinge, über die Möglichkeiten einer Stimme kaum etwas. Ich habe in Bayreuth trotzdem zugesagt, aber mit der Bedingung, daß ich zwischen den Vorstellungen mindestens drei Tage Ruhe brauche. Das wurde mir versprochen. Als ich den Vertrag erhielt, hat man diesen Punkt vergessen, einmal lag sogar nur ein Tag zwischen zwei "Lohengrin"-Vorstellungen. Ich habe der Festspielleitung mitgeteilt, daß es in diesem Fall für eine lyrische Stimme um sehr viel gehe. Ich habe nicht geschrieben um Leben oder Tod, aber es stimmt schon ein bißchen, daß man sich dadurch die Karriere um etliche Jahre verkürzt. Ich teilte mit, daß ich nach langem und ernsthaftem Überlegen zum Entschluß gekommen bin, daß ich das Angebot nicht annehmen kann. Weil ich das Risiko nicht eingehen darf, daß ich danach meine Partien – ich sollte kurz nach Bayreuth in San Francisco als Des Grieux gastieren – nicht mehr so singen kann wie davor. Mein Name stand schon im Bayreuther Programm, so war man mir ziemlich böse. Aber solche Entscheidungen müssen wir treffen. Ich glaube, es war klug von mir. Man muß sich entscheiden: entweder macht man das eine oder das andere, dann muß man auch bestimmte Partien an den Nagel hängen.
 
 

Mit Colin Davis bei Aufnahmen zu "Cosi fan tutte" in London (1974)
Dazu gehört auch große Charakterstärke, die nicht selbstverständlich ist.

Ja, sicherlich. Aber ich habe gedacht: Ich brauche eine Karriere als Wagner-Sänger nicht. Die deutschen Tenöre brauchen Bayreuth, es ist für sie sehr wichtig, dort zu singen. Aber ich bin kein Wagner-Tenor, Wagner ist nicht meine Sache, so brauche ich eigentlich auch Bayreuth nicht. Ich muß mich für Dinge entscheiden, die für mich gut sind. Das sage ich auch den jungen Leuten, daß sie darauf achten sollen.


 
 

"Ein Sänger muß vor allem an seine Stimme denken"

Meinen Sie nicht, daß die Verlockungen, die Versuchungen sehr groß sind für einen Künstler, der noch am Beginn seiner Laufbahn steht? Als Sie Bayreuth absagten, waren Sie schon ein international renommierter Sänger. Auch die Zwänge des Musikbetriebs sollte man nicht unterschätzen. Kann ein junger Sänger all dem standhalten?

Ich sage immer: Das Wichtigste ist die Stimme, die Verfassung der Stimme. Wenn Herr Karajan dich für einen Radames engagiert und du bist keiner, aber du hast Angst, ihm nein zu sagen, und singst die Partie trotzdem, dann wäre es besser für deine Stimme, bei Karajan abzusagen. Denn, singst zu die Partie nur halbwegs gut, wird der Dirigent den nächsten Besseren nehmen und sich nicht um dein weiteres Schicksal kümmern. Was hast du dann davon, daß du mit dem großen Meister gesungen hast? Er wird keine Zeit mehr für einen Sänger finden, der ihn nicht interessiert. Ein Sänger muß vor allem an sich selbst denken. Es kann etwas im Moment als eine große Chance, eine wichtige Sache aussehen. Bedenken muß man immer, wie die Verfassung der Stimme danach sein wird. Selbst wenn einer drei- oder viermal absagt, aber die Stimme sich großartig entwickelt, wird er ein Angebot bekommen, das seiner stimmlichen Verfassung und seiner Veranlagung entspricht.
 
 

Bei Aufnahmen zu "Benvenuto Cellini"
Das hört sich sehr überzeugend an. Aber ist der sog. Musikbetrieb nicht so unmenschlich geworden, daß ein junger Künstler nach der ersten Absage keine Chance mehr bekommt?

Auch heute gibt es einen Mangel an Tenören. Ein guter Tenor wird immer attraktive Angebote bekommen und seine Karriere behutsam aufbauen können. Ich kann es nie oft genug wiederholen: Die Verfassung, die Gesundheit der Stimme ist das Wichtigste, daß sie hundertprozentig optimal eingesetzt werden kann, mit dem besten Resultat. So kann man auch neben der Konkurrenz bestehen, denn Konkurrenz ist wichtig. Ich finde es absolut falsch, wenn Sänger, bei früheren Primadonnen war das oft so, fast ein Eigenrecht auf eine Rolle erheben. Das ist doch dummes Zeug. Ich habe oft den Hoffmann gesungen, aber ich kann ja nicht herumgehen und überall fragen, warum nimmt man nicht mich, sondern einen anderen?

Denkbar wäre, daß man eine Partie für die Schallplatte singt, aber nicht auf der Bühne.

Das ist richtig. Obwohl ich auch da vorsichtig gehandelt habe. Man hat mir vor Jahren z.B. den Rienzi in der Schallplattenaufnahme dieser Wagner-Oper angeboten. Ich habe abgesagt. Wenn man sich für eine Partie einen Monat zum Einstudieren und nach der Aufnahme eine Ruhepause von einem Monat gönnen würde, ließe sich einiges machen. Aber das geht ja kaum.
 
 
Eine Stimme über viele Jahre intakt und gesund zu erhalten, dazu gehört auch eine disziplinierte Lebensweise. Auch die genaue Überlegung, wie viele Abende man singt.

Entscheidend ist die Lebensweise. Ich habe z.B. nie geraucht, getrunken ja, aber mit Maß, keine scharfen Sachen, ein Bier oder Rotwein, denn Rotwein tut der Stimme gut. Aber auch nicht jeden Tag. Für einen Tenor ist der Umgang mit Sex von großer Bedeutung. Man darf sich einen Tag vor der Vorstellung nicht mit Frauen beschäftigen. Disziplin ist sehr wichtig. Singen ist ja wie Hochleistungssport. Auch beim Essen ist Vorsicht angebracht. Schließlich die Frage: Wie oft singt man? Von Fall zu Fall ist das anders. Selbstverständlich kann man, wenn es sich um das selbe Konzertprogramm oder die selbe Partie handelt, drei Mal in der Woche singen, weil die Stimme eingesungen ist. Bei Mozart oder auch bei Hoffmann läßt sich das machen. Aber man sollte sich nach einer solchen Aufführungsserie nicht ohne eine längere Pause in andere Proben stürzen. Ich habe mir stets eine Woche Ruhe gegönnt. Nach Reisen nach Amerika sollte man ohnehin einige Tage Ruhe haben, ohne Proben, auch wenn man noch jung ist. Guter Schlaf ist auch sehr wichtig. Was sind Gründe für eine kurze Karriere? Entweder will man nicht mehr, aber meistens kommt es dazu, weil man nicht mehr gut genug singt, daß man von einer zur anderen Partie gewechselt hat, ohne genügend Ruhepausen dazwischen. Wenn man in kurzem Abstand z.B. eine Lucia und dann gleich eine Lady Macbeth singt, um zu zeigen, ich kann ja alles. Das kann man zeigen, aber wie lange? Ein Beispiel dafür ist Maria Callas. Sie hatte keine richtige Schule oder sie hat falsch gelernt. Später hat sie spekuliert und die Stimme manipuliert. Das war sicher der Grund, daß ihre Karriere so schnell zu Ende ging. Ich glaube, sie wollte zeigen, daß sie alles kann, einen Tag eine Lucia und dann eine Lady Macbeth singen. Das kann man nicht, es geht schief. Sie ist sehr unglücklich gestorben. Hätte sie noch Stimme gehabt, hätte sie gewiß auch ihre nervlichen Probleme gemeistert.

Über diese Dinge muß man auch nachdenken. Intelligenz gehört dazu. Dies den jungen Menschen beizubringen, halte ich für eine wichtige Aufgabe. Es ist ja so wunderbar, wenn man in ein Alter kommt, in dem man nicht nur an sich selbst zu denken braucht. Es ist ein herrliches Gefühl, angehenden Künstlern mit gutem Rat beizustehen, zu erfahren, daß sie mich brauchen.


Bei einer Autogrammstunde

Der Typus eines Sängers ist heute schon im äußeren Erscheinungsbild, durch den Einfluß des Regietheaters und der Medien, anders als vor fünfzig Jahren. Voluminöse Primadonnen, dicke Tenöre sind kaum gefragt. Ein schlanker, zarter Körper wiederum scheint nicht die Kraft aufzubringen, um die Töne zu "produzieren", die im heldischen schweren Fach verlangt werden. Hat man dem ästhetischen Erscheinungsbild die tragende Kraft der Stimme geopfert?

Ich muß erneut auf Birgit Nilsson hinweisen. Weil sie diesen großen Brustkorb hat, braucht sie auch nicht viel zu machen. Sie hat die Resonanz einfach – sozusagen gratis vom lieben Gott. Ich habe mit mehreren Tenören gearbeitet, die einen schmalen, fast eingesunkenen Brustkorb hatten. Ich sagte ihnen, lieber Freund, du mußt deinen Brustkorb entwickeln, mit Gymnastik, Atmungsübungen o.ä. Die Brust ist der wichtigste Resonanzkasten. Auch wichtig, um die Tiefe zu entwickeln. Manchmal muß ein Tenor ein tiefes C oder sogar ein A singen. Ich habe diese Tiefe nur mit der Resonanz entwickelt, mit einem hohen Brustkorb. Ich sage den Kollegen: Bei allen Intervallen, die heruntergehen, bitte hoch denken, den Brustkorb heben. Die Brust ist Resonanz, und die Zähne sind Resonanz, nicht nur Kopf und Mundhöhle. Manche Sänger haben nur eine Nasenresonanz. Aber alles ist Resonanz, und wir müssen damit arbeiten, ohne Spannungen. Es muß eine Bewegung dabei sein, die hilft. Je tiefer man singt, desto höher muß man denken. Ich glaube, daß dicke Sänger nicht so viel machen müssen, sie haben einfach die Resonanz. Ein Melchior brauchte nur den Mund aufzumachen, selbstverständlich mit der wunderbaren Technik, über die er verfügte, und es ging alles sozusagen automatisch. Bei anderen geht das nicht, sie müssen es sich erarbeiten.

Man kann nicht sagen, daß korpulente Sänger sich heute schwerer durchsetzen können. Denken Sie nur an Pavarotti, er wird in Amerika wie ein Gott gefeiert. Hinzu kommt diese wunderbare Ausstrahlung von Luciano. Er entspricht vollkommen dem Bild eines italienischen Sängers. Er küßt und umarmt alle, das haben die Leute so gern. Ich hatte als Schwede und Slawe diesbezüglich meine Schwierigkeiten, man hat auch nicht diese spontane, unmittelbare Beziehung zum Publikum. Mediterraner sind eben extrovertierte Menschen. Dicke Frauen haben es schon etwas schwerer, akzeptiert zu werden. Im großen und ganzen meine ich schon, daß ein Romeo oder ein Werther schlank sein soll. Dann muß man eben beim Singen mit mehr Technik arbeiten.

Wenn Sie an die Opfer denken, die ein diszipliniertes Leben von Ihnen abverlangt hat, um Ihr sängerisches Niveau zu halten, erscheinen sie Ihnen rückblickend als zu hoch, oder wurden Sie durch die Freude an Ihrem Beruf entschädigt?

Ja – vielleicht. Aber ich glaube, daß ich in den Jahren, in denen ich voll auf die Karriere, auf die Stimme und die Dinge, die damit zusammenhängen, konzentriert, meine ganze Zeit verwendet habe, in meiner Entwicklung als Mensch vielleicht auf irgendeine Weise steckengeblieben bin.

Was meinen Sie damit?

Meine Entwicklung als intellektueller Mensch. Ich möchte viel mehr lesen, auf verschiedenen Gebieten des Lebens mehr wissen und machen können. Auch im praktischen Leben, in technischen Dingen. Ich beneide z.B. die Leute mit den goldenen Händen, die einen kaputten Rasierapparat reparieren können. Ich hatte nie Zeit für solche Sachen. Auch für andere Bereiche nicht, denn der Sängerberuf nimmt einem die ganze Kraft und die ganze Zeit. Aber das mag keine Entschuldigung sein, denn es gibt Kollegen, die auch für andere Sachen Zeit aufbringen können. Diesbezüglich bin ich mit mir nicht sehr zufrieden. Letztendlich finde ich, daß mir der Beruf zu viel Zeit genommen hat. Aber das ist nicht nur bei einem Sänger, sondern auch in anderen Berufen so. Ich sage das nicht, um mich zu beklagen, aber ich möchte als Mensch vielseitiger sein. Theater und Singen sind schon eine interessante, intellektuelle Arbeit, man sollte sich darüber nicht beschweren. Aber es gibt im Leben noch so viele andere Dinge. Selbstverständlich lese ich viel, selbstverständlich verfolge ich die Politik, die Entwicklungen in der Gesellschaft, alles, was unser Leben betrifft. Eine große Zufriedenheit hat mir stets die Kirche gegeben, ich habe ja schon immer in der Kirche gesungen. Aber da kommen wir wieder auf das Singen.
 
 

Bei Schallplattenaufnahmen
Wenn wir schon bei philosophischen, weltanschaulichen Fragen angelangt sind: Waren oder sind Sie ein religiöser Mensch?

Ich bin in der russisch-orthodoxen Religion aufgewachsen. Meinem Vater verdanke ich unter anderem auch, daß ich durch das Singen in der Kirche schon als Sechsjähriger Noten gelesen habe wie ein Buch. Mein Vater war Chordirektor, Kantor ist nicht das richtige Wort dafür in der russischen Kirche, denn Psalomschik ist eine Art Psalmodist. Mein Vater hat mir auch die russische Sprache beigebracht. Meine Sprachkenntnisse machen mich wirklich glücklich. Ich hatte das Glück, daß ich in verschiedenen Ländern singen konnte, so spreche ich sechs Sprachen fließend. Da bin ich ein richtiger Star. Die russische Sprache finde ich sehr wichtig. Ich lese nicht nur diese wunderbare Literatur in der Originalsprache, sondern singe auch viel russische Musik.

Ich möchte aber auf Ihre Frage zurückkommen, ob ich ein religiöser Mensch bin. Wie ich schon sagte, wuchs ich in der russisch-orthodoxen Kirche auf. Mein Vater sang im Don-Kosaken-Chor, aber sein Beruf war nach der Revolution als Flüchtling der Dienst in der Kirche als Chormeister. Ich sang sehr viel in der Kirche, Sopran, nach dem Stimmbruch Mezzosopran, dann Tenor. Aber religiös im Sinne der russisch-orthodoxen Religion bin ich nicht. Ich glaube an Gott, ich bitte ihn um seine Hilfe. Ich bin davon überzeugt, daß es eine höhere Macht gibt, die einem hilft. In dieser Beziehung bin ich ein gläubiger Mensch, nicht in der äußerlichen Ausübung von religiösen Vorschriften. Wie ich bei Tolstoi nachlesen kann, trägt jeder das Reich Gottes in sich, und das meine ich auch. Man muß stets daran arbeiten, daß man ein besserer Mensch wird. Das ist der Weg zu Gott. Die eigenen Schwächen und Fehler überwinden fällt schon schwer. Zum Beispiel im Zusammenleben mit einer Frau, in der Ehe. Die Arbeit an sich selbst, nicht nur als Künstler, sondern vor allem auch als Mensch, ist entscheidend. Und für das letztere hatte ich vielleicht zu wenig Zeit, um mich als Mensch zu verbessern. Deshalb empfinde ich dieses Gefühl von Glück, wenn ich merke, daß ich meine Aufgabe erfüllen kann, jungen Menschen zu helfen. Das ist etwas Gutes, etwas Konstruktives. Nicht nur Karriere machen und an die Erfolge denken. Wir werden ja alle älter, und eines Tages sinkt alles zusammen. Es gibt viele Beispiele dafür, daß Sänger völlig deprimiert werden, nichts mehr machen wollen, sich plagen und nur an den Tod denken, weil ihr Lebensinhalt mit der Beendigung ihrer Karriere erlischt. Und noch etwas, wofür ich dankbar bin: Ich habe ein völliges Manko an Eifersucht. Auf Placido Domingo könnte man zum Beispiel schon eifersüchtig sein, denn er hat alles: Figur, Kultur, eine herrliche Stimme, er dirigiert, ist viel besser als alle Anderen. Eine großartige Begabung. Ich bewundere ihn als den vielleicht größten Sänger unserer Zeit. Ich bin ja so glücklich, daß ich dieses bittere Gefühl von Eifersucht oder Neid nie empfunden habe. Ich kenne diese Bitterkeit vieler Kollegen nicht, vielleicht wurde ich in ganz schweren Stunden manchmal davon berührt. Aber ich habe doch alles gemacht, was ich machen konnte, ich kann doch zufrieden sein. Im Prinzip bin ich erfüllt von positiven, guten Gefühlen.
 

Man kann ja gewiß ohne Übertreibung sagen, daß Sie ein erfülltes, reiches Künstlerleben haben. Zweifel gehören ja zur Begabung, unkritisch sind nur die Unbegabten.

Ich habe vor kurzem in Schweden einen Meisterkurs gehalten und sagte den jungen Menschen: Wenn etwas schief geht oder nicht unseren Erwartungen entspricht, neigen wir Sänger dazu, die Ursachen, die Gründe dafür bei den anderen oder in äußerlichen Dingen zu suchen. Wenn wir Probleme haben oder nicht das erreichen konnten, was wir uns erträumt haben, machen wir es uns leicht und suchen bei anderen Menschen oder Kräften, die angeblich gegen uns arbeiten, die Schuld. Ich habe den jungen Sängern gesagt, wenn sie den Eindruck haben, das etwas gegen sie gerichtet ist, sollten sie es sich überlegen: Vielleicht mache ich etwas falsch? Warum müssen alle Anderen gegen einen sein? In einem Theater herrscht eine gewisse Atmosphäre, sie kann sympathisch oder unsympathisch sein. Es scheint, daß gewisse Leute gegen einen arbeiten, aber die haben auch ihre Schwierigkeiten, mit denen sie kämpfen müssen. In einem Haus gibt es so viele menschliche und künstlerische Aspekte, daß die Probleme eines Sängers nur ein kleiner Teil davon sind. Man soll zuerst daran denken, vielleicht mache ich etwas falsch, bevor ich anderen, dem Regisseur, dem Dirigenten oder den Kollegen die Schuld in die Schuhe schiebe.
 
 

"Ich bin ein introvertierter Mensch"

Sie haben im Zusammenhang mit der menschlichen Entwicklung eines Künstlers auch die Problematik des Zusammenlebens in der Familie angesprochen. Familienleben und Karriere sind wahrscheinlich ein Spannungsfeld.

Es ist verschieden. Ich hatte mit meinen Ehefrauen in der ersten und nun in der zweiten Ehe großes Glück. Meine erste Ehe ging nach drei Jahren auseinander. Wir haben aber große Freude an unserer Tochter, sie ist ein wunderbarer, harmonischer Mensch. Sie hat in ihrer Kindheit nicht darunter gelitten, daß ihr Vater mit dem Beruf voll beschäftigt war. Der Leidtragende bin vielmehr ich, weil ich sie als Kind gar nicht erlebt habe. Das war meine Schuld. Seit sechzehn Jahren bin ich zum zweiten Mal verheiratet. Meine Frau ist griechischer Abstammung, ihre Eltern waren Zyprioten, die in den zwanziger Jahren nach Amerika übersiedelten. Sie ist in New York geboren, war auch viel mit mir auf Reisen. Jetzt nimmt unser Bub ihre ganze Zeit und erfüllt ihr Leben. Ich war eigentlich immer etwas einsam, ich bin ja ein Einzelgänger, der gerne mit seinen Gedanken alleine ist, ein introvertierter Mensch. Ich neige auch zur Melancholie, das ist das Slawische in mir. Ich halte das Slawische mit dem Schwedischen für eine gute Mischung. Die Skandinavier sind eher ruhige Menschen, die Slawen haben das Herz und die große Seele. Ich neige, wie ich schon sagte, zwar nicht zur Depression, aber zur Melancholie. Da ist man am besten allein, denn für den Partner ist dieser Zustand nicht sehr angenehm. Ich meine, daß ich mit dem Zusammenleben einen guten Weg gefunden habe, leicht ist es nicht. Es ist ja nicht einfach, mit einem Sänger verheiratet zu sein. Ich glaube auch nicht, daß es gut gehen kann, wenn zwei Sänger miteinander verheiratet sind. Lange kann die Sache nicht halten. Ich kenne eigentlich nur ein positives Beispiel, das ist die Ehe zwischen Evelyn Lear und Thomas Stewart.

Hat Ihre Frau beruflich mit Musik zu tun?

Sie war bei einer Schallplattenfirma tätig. Meine Tochter aus erster Ehe ist Sängerin. Sie lebt in Paris. Ihre Stimme erinnert mich, und das sagt nicht der voreingenommene, verrückte Vater, ein bißchen an Hilde Güden. Sie hat ein schönes, warmes Timbre.

Noch etwas zum Privatleben, zum Beruf des Künstlers. Kurt Bendix, der seinerzeit ermöglicht hat, daß ich mit 26 Jahren, noch als Student der Opernschule, an der Königlichen Oper debütierte, gab mir damals auf den Weg, daß ich in meinem künftigen Berufsleben ganz auf meine künstlerische Arbeit konzentrieren und die alltäglichen Sorgen vergessen muß. Seine klugen Worte haben großen Eindruck auf mich gemacht und meine Einstellung stark geprägt. Wenn man auf der Bühne steht, ist alles andere unwichtig. Das hat mir viel geholfen, Schwächen zu überwinden, die einen seelisch belasten. Das können ja ganz triviale Dinge sein, daß man sich z.B. in einem Geschäft aufregt, weil man nicht bekommen hat, was man wollte, daß man zu Hause eine Auseinandersetzung hatte usw. Die Fähigkeit, völlig abzuschalten und sich innerlich ganz auf die Aufgabe am Abend zu konzentrieren, muß ein Künstler besitzen. In unserem Beruf spielen ja auch viele irrationale, schwer erklärbare Sachen eine wichtige Rolle. Man kann in bester Verfassung sein, trotzdem geht etwas schief. Da hilft Disziplin und Können, Wissen um die Technik, wie man sich darüber hinweghelfen kann. Was die Ausstrahlung eines Künstlers ausmacht, ist fast unmöglich zu erklären. Man fragt sich auch, was ist das Geheimnis des Erfolgs? Brillanz, Virtuosität, hingeschmetterte hohe Töne oder die Atmosphäre, die man erzeugt und die vom Publikum erfühlt und erkannt wird?