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Phonoprisma 1964

 

Nicolai Gedda

  Eine stattliche, gutaussehende, mittelgroße Erscheinung – ein stets freundliches, herzliches, feines und sympathisches Wesen – eine unvergleichliche Tenorstimme, alles Schöne, Gute und menschlich Edle vollendet widerspiegelnd. Der bescheidene Künstler Nicolai Gedda würde zu solchen Komplimenten sicherlich schweigen, aber nicht leicht verdient es jemand so wie gerade er, gelobt zu werden.

  Er beherrscht rund 50 Partien, spricht fließend sechs Weltsprachen und hört trotzdem niemals auf, an sich, seiner Stimme und seinen Leistungen zu arbeiten. „Gesungen habe ich schon als kleiner Bub in der russischen Kirche, und mein Vater hat mir die ersten, wesentlichen Schritte zur Gesangskunst gelehrt.“ Nicolai Gedda verbrachte eine bunte Kindheit. Er wurde in Stockholm geboren, wuchs in Deutschland, genauer gesagt in Leipzig auf, ist der Sohn eines Donkosaken und war längere Zeit in Paris. 1934 kehrte er in seine schwedische Heimat zurück, wurde Bankangestellter und ganz durch Zufall von einem kunstliebenden Kunden entdeckt. Er studierte bei Karl Martin Oehmann und debütierte als Postillon von Lonjumeau an der königlichen Oper Stockholm. Schon 1953 kam er an die Mailänder Scala, ging dann nach Rom und Turin. Es folgten: 1954 Covent Garden und Festival von Aix-en-Provence, 1957 Debüt bei den Salzburger Festspielen und in USA, 1957/58 Krönung seiner Karriere an der Metropolitan Opera als Faust mit Hilde Güden und Jerome Hines. Diese Partie zählt neben der des Lensky und des Tamino, den er schon in mehreren Sprachen gesungen hat, zu seinen Lieblingsrollen.

  „Leider singe ich jedes Jahr viel zu lange in Amerika“, sagt Nicolai Gedda im Laufe des Gespräches. „Die Deutschen sind ein wunderbares Publikum, und ihre Tradition ist wohl die Größte von allen. Hier singe ich besonders gerne. Die Amerikaner haben ein zu geringes Urteilsvermögen, in Italien hört man nur auf die hohen Töne.“ Dieses Kompliment aus dem Munde eines so großen Sängers hören wir besonders gern, und es freut uns, daß Nicolai Gedda gerade in Deutschland neben seinen Opernverpflichtungen sehr viele Lieder- und Oratorienabende gibt, denn seine geschmeidige und ebenmäßige Stimme eignet sich hierfür wie keine zweite. Die besten Kritiken und hohe Anerkennungen beweisen dies stets aufs neue. Die Oper ist sein Lieblingsfach, denn Nicolai Gedda ist ein leidenschaftlicher und hervorragender Schauspieler und, was besonders erfreulich sein dürfte, ein Verfechter der Originalsprache im Opernfach. Nicht nur dem üblichen Repertoire, sondern auch der zu Unrecht stets in den Schatten gerückten französischen und russischen Oper verlieh Nicolai Gedda eine neue, glänzende Stellung und läßt sie trotz der fremden Sprachen für jeden Zuhörer offenbar werden.

   Es gibt kein lyrisches Fach, in dem er nicht zu Hause wäre. „Meine Hobbies? Ich singe und reise immerzu und habe nur wenig Zeit für mich selber. Wenn, dann liebe ich Sport, vor allem Fechten, Reiten und Tennis – ich interessiere mich für Philosophie und Geschichte und lese gerne.“

  Sein Wohnsitz liegt in einer Vorstadt von Stockholm, wo er jedoch leider viel zu selten verweilen kann. Es sei bemerkt, daß Nicolai Gedda jeden Sonntag in einer Fürsorgeanstalt oder in einem Altersheim ohne Entgelt die Messe singt.
 
  Über eine so profilierte Persönlichkeit wie Nicolai Gedda gäbe es viel zu erzählen und, was besonders erfreulich ist, nur Gutes. Keine Klatschzeitung hat je seinen Namen erwähnt, in seiner Lebensgeschichte existieren keine Skandale. Er lebt ganz und gar seinem Beruf und für die Musik, will immer ungetrübte Freude machen und findet hierin seine große Lebensaufgabe. Es gibt keine Mühe, die er scheuen würde, diesen Grundsatz zu verfolgen.
 

Friederike Grassl