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CD-Booklets: Salzburger Festspiele 1961

Vollendete Gesangskunst

Unter den großen Tenören der zweiten Jahrhunderthälfte ist kaum einer so schwer einzuordnen wie Nicolai Gedda. Das beginnt schon bei seiner Herkunft. Am 11. Juli 1925 in Stockholm als Nicolai Ustinov geboren, hat sich der Sohn eines russischen Vaters und einer schwedischen Mutter zunächst für die Geburtsstadt entschieden. Er studierte am Königlichen Opernhaus in Stockholm in der gefürchteten Extrempartie im Postillon von Longjumeau des Franzosen Adophe Adam. Damit gab der 27-jährige Gedda bereits eine Fach-Schiene vor, auf der er berühmt werden sollte: die des eleganten Lyrikers, den seine helle, biegsame Stimme für das französische Fach zu prädestinieren schien.

Paris war denn auch die erste Station seiner internationalen Laufbahn. Dort allerdings sang er in Webers Oberon im deutschen Fach, ein Jahr später begann an der Mailänder Scala die internationale Karriere des Mozart-Sängers Gedda mit dem Don Ottavio in Don Giovanni. Mozart stand einige Jahre im Vordergrund – in Mozarts Entführung aus dem Serail, Cosi fan tutte (unter Karl Böhm) und Don Giovanni (unter Herbert von Karajan) hat Gedda von 1957 bis 1961 auch in Salzburg Maßstäbe erfüllt –, doch ließ sich der Sänger in keiner Weise eingrenzen: Glucks Orpheus oder Haydns Orfeo auf der einen, der Herzog in Verdis Rigoletto, Don José in Carmen oder Lenski in Eugen Onegin auf der anderen Seite markieren die Breite seines Repertoires; an der Metropolitan Opera in New York war der Faust in Gounods Oper 1957 seine Debüt-Rolle. Und bei den Salzburger Festspielen brillierte Nicolai Gedda ebenfalls 1957 nach seinem Debüt als Belmonte mit dem Horace in der Uraufführung von Rolf Liebermanns Schule der Frauen als Singschauspieler von hohen Graden; ein Jahr später sang er unter Dimitri Mitropoulos eine der Hauptrollen in der allerdings wenig erfolgreichen Uraufführung von Samuel Barbers Oper Vanessa; 1961 war er neben dem Don Ottavio der italienische Sänger in der von Karl Böhm dirigierten Reprise des Rosenkavalier.

Diese Vielseitigkeit, die sich nicht nur auf der Bühne, sondern ebenso im Konzertsaal über vier Jahrzehnte der langen und glanzvollen Karriere des Nicolai Gedda vielfach bestätigt hat, verdankt der Sänger sowohl seiner ungewöhnlichen künstlerischen Disziplin als auch einer Offenheit, die den Schweden im wahrsten Sinn des Begriffs zum Weltbürger gemacht hat. Auf der Basis einer vollendeten Gesangskultur, die ihn seine Stimme vom lyrischen Mezzavoce bis zum heldischen Ausdruck in allen Registern perfekt beherrschen läßt, doch ebenso mit einem sicheren Gefühl für den jeweiligen Stil und, was nicht weniger wichtig ist, für das charakteristische Idiom der musikalischen Sprache begabt, bewegt Nicolai Gedda sich in jeder Aufgabe mit gleicher Souveränität. Eine Vielzahl von Schallplattenaufnahmen, von Bachs h-moll Messe, die er unter Karajan 1961 auch bei den Salzburger Festspielen gesungen hat, bis hin zu den legendären Lehár-Aufnahmen Land des Lächelns und Die lustige Witwe, geben Zeugnis davon.

Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, der Stile und Sprachen ist es auch, die Nicolai Gedda an den Aufgaben des Liedersängers gereizt und seine insgesamt fünf Abende bei den Salzburger Festspielen unvergessen gemacht hat. Zum ersten Mal trat Gedda 1959 im Mozarteum vor das Publikum, um mit Erik Werba von altitalienischen Arien über französische und russische Komponisten des 19. Und 20. Jahrhunderts bis zu Schostakowitsch zu gelangen. 1961 schloß die Liedreise neben einer italienischen Händel-Arie und Liedern von Duparc, Poulenc, Khatchaturian und Rachmaninow auch Lieder von Schubert und Richard Strauss ein, 1969 standen skandinavische und russische Komponisten auf dem Programm seines Liederabends, 1971 widmeten sich der Sänger und Erik Werba im Mozarteum ausschließlich Schubert und Strauss, 1974 galt ein Abend im Großen Festspielhaus mit Alexis Weissenberg als Partner einem rein russischen Programm.

Der Liederabend des Festspielsommers 1961 dokumentiert die idiomatische und stilistische Vielseitigkeit von Nicolai Gedda und seine wahrhaft vollendete Gesangskultur auf besondere Weise. Gedda erweist sich nach einer kunstvoll und in souveräner Manier gesungenen Händel-Arie als ein Lyriker par excellence, der weder bei Schubert noch bei Richard Strauss vordergründige Effekte sucht. Meisterhaft sind die Kontraste gesetzt. Den lyrischen Impressionen der Stimmungsbilder des Franzosen Duparc und den hintergründig pointierten Gesangspiècen des Francis Poulenc entsprechen weitgehend unbekannte Lieder des russischen Repertoires. Und im Zugabenteil setzt Nicolai Gedda mit Romanzen aus der 1895 im Petersburger Minskij-Theater uraufgeführten Oper Dubrovski des aus Tschechien stammenden Komponisten Eduard Nápravnik und der Romanze aus Massenets Werther diese reizvolle Gegenüberstellung fort.

Gottfried Kraus, 1994