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Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

Ein Tenor für die Welt 1951-1954 


Vom Postillon zum Priester

Im Winter des Jahres 2004 erschien unter dem Label von Chandos eine weitere Einspielung des Dirigenten David Parry, der damit seine begonnene Serie Opera in english fortführte. Der Clou der Aufnahme von Mozarts Idomeneo bestand in der Besetzung von Neptuns Oberpriester mit dem damals bereits 78jährigen Nicolai Gedda, der bereits 2 Jahre zuvor die Musikwelt mit seinem Schallplattencomeback als Kaiser Altoum in Puccinis Turandot überrascht hatte. Das äußerst zweifelhafte Vergnügen, Mozart und Puccini in englischer Sprache zu erleben wurde zumindest hinsichtlich dieser Originalität gemildert. Noch immer besaß die Stimme des schwedischen Tenors Autorität und Präsenz, wenngleich der einstmals leuchtende Glanz nunmehr nur noch erahnbar war.

Mit der Teilnahme an dieser Produktion überrundete Gedda 50 Jahre Aufnahmetätigkeit. Seine erste Einspielung galt im Juli 1952 in Paris Mussorgskys Zaren- Oper Boris Godunow unter dem Dirigenten Issay Dobrownen. Nur wenige Monate zuvor hatte an der Stockholmer Oper ein Auftritt des damals 27jährigen für Aufmerksamkeit gesorgt. Gedda sang damals nach einem intensiven Gesangsstudium die Titelrolle von Le Postillon du Lonjumeau, einem französischen Singspiel seichter Qualität. Für einen lyrischen Tenor hielt das Werk aber eine wirkliche Herausforderung bereit. Der Komponist Adolphe Adam schrieb im Finalrefrain der gefürchteten Arie im 1. Akt den Sprung auf das hohe D vor, ein Ton außerhalb der Reichweite der meisten Tenöre. Wie uns ein erhaltener Mitschnitt des schwedischen Rundfunks vom 10. April 1952 – zwei Tage nach dem Debüt – dokumentiert, gelang Gedda dieser Ton mühelos, wenngleich er auch noch etwas zaghaft, fast schüchtern daher kommt.

Hier beginnt die Legende des Sängers, der schon bald danach zum König der Tenöre auf-stieg, und dessen fulminante Karriere immer wieder von einschlägigen Musikrezensenten als exemplarische Vorbildlaufbahn bemüht wurde. Und wie bei allen Legenden mischten sich auch bald in der Darstellung von Geddas Karriere Wahr- und Unwahrheiten, verwischten die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen.

Es war Gedda selbst, der im hohen Alter einige Unwahrheiten in seiner Vita korrigierte. In seiner Autobiographie Mein Leben – Meine Kunst berichtet er von den beruflichen Schwierigkeiten und privaten Wirrungen. Viele interessante Aspekte seines Lebens aber wurden leider nicht beleuchtet, und letztendlich mehr ver- als enthüllt. Eine Leserin aus Flensburg bezeichnete die Biographie gar als „verwirrendes Psychogramm“. Mein zunächst wohlgemeinter Versuch, eine möglichst lückenlose Chronologie seines Lebens zu schreiben, blieb damit eine Utopie.

Auch diese vorliegende Nacherzählung seiner Karriere befasst sich hauptsächlich mit den realen, nachweisbaren Fakten seiner beruflichen Laufbahn. In Geddas Privatleben ist sehr vieles spekulativ, und auch in seinem Sängerleben differieren viele Angaben. So war der Auftritt als Postillon keineswegs das Debüt; Gedda war kurz zuvor schon an der Stockholmer Oper in Millöckers Bettelstudent in Erscheinung getreten. Die nachlesbaren Angaben diverser Musiklexika, Herbert von Karajan saß damals im Publikum, und hat Gedda in der Folge eine rasche Karriere ermöglicht, ist ebenso falsch wie die Behauptung, von keinem Tenor gibt es mehr Schallplatten.

Lassen wir also alle Spekulationen beiseite und konzentrieren uns auf eine Musikerlaufbahn, die auch ohne falsche Ausschmückungen überaus bemerkenswert ist. Sie führte durch fünf Jahrzehnte intensiver Präsenz auf den internationalen Bühnen vom jungen Postillon zum greisen Priester in Mozarts Idomeneo. Dabei möchte ich gerne an gegebenen Stellen auf einige interessante Aspekte aufmerksam machen, und auch kritische Anmerkungen einfügen. Eines bleibt wohl unbestreitbar: Gedda war ein großer Tenor, ein unvergleichlicher Künstler, er hat Maßstäbe gesetzt. Er hat seinen Zuhörern einen kultivierten Gesang geschenkt, den viele andere Tenöre vermissen ließen. Aber er hat seine Grenzen zuweilen auch überschritten. In der Galerie der schwedischen Tenöre kann er ohne Zweifel als legitimer Nachfolger Jussi Björlings betrachtet werden. Aber Geddas Kunst besaß nicht jene Volkstümlichkeit, jene unmittelbare Nähe zum Hörer, die auf Herz und Seele zielte. Er war auch kein Tenor mit maskuliner Vibranz. Geddas Vortrag war stets etwas für die sogenannten Connoisseurs, die Kenner schöner Stimmen. Gedda hat sich kreuz und quer vom Barock bis zur Moderne durch die tenoralen Partituren dieser Welt gesungen. Daß er bei dieser Vielseitigkeit nicht immer die Spreu vom Weizen zu trennen vermochte, ist leider Gewißheit. Ulrich Schreiber formulierte es so: „Auch er hatte durchaus schwächere Momente, und durchwatete manche musikalischen Untiefen.“ Und doch hat auch ein infantiles Stück wie Rossinis >La Chanson de bebe< bei ihm noch einen gewissen Reiz in der Darbietung. Anders als Jussi Björling, von dem es, simpel ausgedrückt, keine schlechten Aufnahmen gibt, hat Gedda einfach zuviel gesungen. Er hat sich auch zweitklassiger Musik genähert, dabei aber niemals seine stimmlichen Grenzen dauerhaft überschritten. Nur so war es möglich, mehr als 50 Sängerjahre zu erleben, und noch 2004 seine Fans mit einer neuen Schallplattenaufnahme zu überraschen.

Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift steuert Nicolai Gedda auf die Vollendung seines 80. Lebensjahres zu. Damit ist er tatsächlich eine lebende Legende inmitten einer neuen Generation von Sängern, deren Präsenz sich anscheinend durch immer attraktivere Physis erklärt. Nur sehr wenige Tenöre konnten ihm stimmlich folgen oder in seine Spuren treten. Welcher heute lebende Tenor vermag die Musik Mozarts, Massenets oder auch Lehars so zu interpretieren wie einst Gedda, der in seinen Vorträgen schon früh Kommas und Akzente setzte?

Es bleibt die Möglichkeit, in Nicolai Gedda den vielleicht größten Tenor der letzten 50 Jahre zu sehen, auch wenn sein Ton nicht so warm wie der von Placido Domingos war, und er keine knisternde Spannung wie Luciano Pavarotti auslöste. Wer aber den klassichen Gesang stets als Kunst verstanden hat, als eine ernstzunehmende Gattung vokaler Artistik, der wird an Nicolai Gedda auch in Zukunft nicht vorbei kommen und weiter seine Aufnahmen hören.



Diese Chronologie befasst sich ganz bewußt nicht mit den Jugendjahren des Künstlers. Über diese Zeit hat er in seinem Erinnerungsbuch Mein Leben – Meine Kunst alles Nennenswerte niedergeschrieben. Ich habe versucht, die von mir in drei Jahrzehnten gesammelten Daten und Fakten zu einer bislang unerzählten Geschichte zu vereinen. Nicolai Gedda hat als diskreter Künstler und Mensch viele Dinge seines Lebens verschleiert. Wer zwischen den Zeilen dieses Buches liest, wird die Mosaiksteinchen aber zu einem Bild verdichten können.

Ein letzter Hinweis: Alle Werktitel sind kursiv gesetzt. Sie sind in der Originalsprache angegeben und ins Deutsche übersetzt, wenn keine einfache Identifizierung, wie bei einem russischen oder tschechischen Titel, möglich ist. Ebenfalls kursiv gesetzt sind längere Zitate, Arien- und Liedertitel sowie die Namen der Theater und Opernhäuser.




Michael Stember,
Dezember 2004, Essen
E-Mail: mikemike1961@yahoo.de

Ein Tenor für die Welt 1951-1954