Im Winter des Jahres 2004
erschien unter dem Label von Chandos eine weitere Einspielung des Dirigenten
David Parry, der damit seine begonnene Serie Operainenglish
fortführte. Der Clou der Aufnahme von Mozarts Idomeneo bestand in der
Besetzung von Neptuns Oberpriester mit dem damals bereits 78jährigen Nicolai
Gedda, der bereits 2 Jahre zuvor die Musikwelt mit seinem Schallplattencomeback
als Kaiser Altoum in Puccinis Turandot überrascht hatte. Das äußerst
zweifelhafte Vergnügen, Mozart und Puccini in englischer Sprache zu erleben
wurde zumindest hinsichtlich dieser Originalität gemildert. Noch immer
besaß die Stimme des schwedischen Tenors Autorität und Präsenz, wenngleich der
einstmals leuchtende Glanz nunmehr nur noch erahnbar war.
Mit der Teilnahme an dieser Produktion überrundete Gedda 50 Jahre
Aufnahmetätigkeit. Seine erste Einspielung galt im Juli 1952 in Paris
Mussorgskys Zaren- Oper BorisGodunow unter dem Dirigenten Issay
Dobrownen. Nur wenige Monate zuvor hatte an der Stockholmer Oper ein Auftritt
des damals 27jährigen für Aufmerksamkeit gesorgt. Gedda sang damals nach einem
intensiven Gesangsstudium die Titelrolle von Le Postillon du Lonjumeau,
einem französischen Singspiel seichter Qualität. Für einen lyrischen Tenor
hielt das Werk aber eine wirkliche Herausforderung bereit. Der Komponist
Adolphe Adam schrieb im Finalrefrain der gefürchteten Arie im 1. Akt den Sprung
auf das hohe D vor, ein Ton außerhalb der Reichweite der meisten Tenöre. Wie
uns ein erhaltener Mitschnitt des schwedischen Rundfunks vom 10. April 1952 –
zwei Tage nach dem Debüt – dokumentiert, gelang Gedda dieser Ton mühelos,
wenngleich er auch noch etwas zaghaft, fast schüchtern daher kommt.
Hier beginnt die Legende des Sängers, der schon bald danach zum KönigderTenöre auf-stieg, und dessen fulminante Karriere immer wieder
von einschlägigen Musikrezensenten als exemplarische Vorbildlaufbahn bemüht
wurde. Und wie bei allen Legenden mischten sich auch bald in der Darstellung
von Geddas Karriere Wahr- und Unwahrheiten, verwischten die Grenzen zwischen
Fakten und Fiktionen.
Es war Gedda selbst, der im hohen Alter einige Unwahrheiten in seiner
Vita korrigierte. In seiner Autobiographie MeinLeben– Meine
Kunst berichtet er von den beruflichen Schwierigkeiten und privaten
Wirrungen. Viele interessante Aspekte seines Lebens aber wurden leider nicht
beleuchtet, und letztendlich mehr ver- als enthüllt. Eine Leserin aus Flensburg
bezeichnete die Biographie gar als „verwirrendes Psychogramm“. Mein zunächst
wohlgemeinter Versuch, eine möglichst lückenlose Chronologie seines Lebens zu
schreiben, blieb damit eine Utopie.
Auch diese vorliegende Nacherzählung seiner Karriere befasst sich
hauptsächlich mit den realen, nachweisbaren Fakten seiner beruflichen Laufbahn.
In Geddas Privatleben ist sehr vieles spekulativ, und auch in seinem
Sängerleben differieren viele Angaben. So war der Auftritt als Postillon
keineswegs das Debüt; Gedda war kurz zuvor schon an der Stockholmer Oper in
Millöckers Bettelstudent in Erscheinung getreten. Die nachlesbaren
Angaben diverser Musiklexika, Herbert von Karajan saß damals im Publikum, und
hat Gedda in der Folge eine rasche Karriere ermöglicht, ist ebenso falsch wie
die Behauptung, von keinem Tenor gibt es mehr Schallplatten.
Lassen wir also alle Spekulationen beiseite und konzentrieren uns auf
eine Musikerlaufbahn, die auch ohne falsche Ausschmückungen überaus
bemerkenswert ist. Sie führte durch fünf Jahrzehnte intensiver Präsenz auf den
internationalen Bühnen vom jungen Postillon zum greisen Priester in
Mozarts Idomeneo. Dabei möchte ich gerne an gegebenen Stellen auf einige
interessante Aspekte aufmerksam machen, und auch kritische Anmerkungen
einfügen. Eines bleibt wohl unbestreitbar: Gedda war ein großer Tenor, ein
unvergleichlicher Künstler, er hat Maßstäbe gesetzt. Er hat seinen Zuhörern
einen kultivierten Gesang geschenkt, den viele andere Tenöre vermissen ließen.
Aber er hat seine Grenzen zuweilen auch überschritten. In der Galerie der
schwedischen Tenöre kann er ohne Zweifel als legitimer Nachfolger Jussi
Björlings betrachtet werden. Aber Geddas Kunst besaß nicht jene
Volkstümlichkeit, jene unmittelbare Nähe zum Hörer, die auf Herz und Seele
zielte. Er war auch kein Tenor mit maskuliner Vibranz. Geddas Vortrag war stets
etwas für die sogenannten Connoisseurs, die Kenner schöner Stimmen. Gedda hat
sich kreuz und quer vom Barock bis zur Moderne durch die tenoralen Partituren
dieser Welt gesungen. Daß er bei dieser Vielseitigkeit nicht immer die Spreu
vom Weizen zu trennen vermochte, ist leider Gewißheit. Ulrich Schreiber
formulierte es so: „Auch er hatte durchaus schwächere Momente, und durchwatete
manche musikalischen Untiefen.“ Und doch hat auch ein infantiles Stück wie
Rossinis >LaChansondebebe< bei ihm noch
einen gewissen Reiz in der Darbietung. Anders als Jussi Björling, von dem es,
simpel ausgedrückt, keine schlechten Aufnahmen gibt, hat Gedda einfach zuviel
gesungen. Er hat sich auch zweitklassiger Musik genähert, dabei aber niemals
seine stimmlichen Grenzen dauerhaft überschritten. Nur so war es möglich, mehr
als 50 Sängerjahre zu erleben, und noch 2004 seine Fans mit einer neuen
Schallplattenaufnahme zu überraschen.
Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift steuert Nicolai Gedda auf die
Vollendung seines 80. Lebensjahres zu. Damit ist er tatsächlich eine lebende
Legende inmitten einer neuen Generation von Sängern, deren Präsenz sich
anscheinend durch immer attraktivere Physis erklärt. Nur sehr wenige Tenöre
konnten ihm stimmlich folgen oder in seine Spuren treten. Welcher heute lebende
Tenor vermag die Musik Mozarts, Massenets oder auch Lehars so zu interpretieren
wie einst Gedda, der in seinen Vorträgen schon früh Kommas und Akzente setzte?
Es bleibt die Möglichkeit, in Nicolai Gedda den vielleicht größten Tenor
der letzten 50 Jahre zu sehen, auch wenn sein Ton nicht so warm wie der von
Placido Domingos war, und er keine knisternde Spannung wie Luciano Pavarotti
auslöste. Wer aber den klassichen Gesang stets als Kunst verstanden hat, als
eine ernstzunehmende Gattung vokaler Artistik, der wird an Nicolai Gedda auch
in Zukunft nicht vorbei kommen und weiter seine Aufnahmen hören.
Diese Chronologie befasst sich ganz bewußt nicht mit den
Jugendjahren des Künstlers. Über diese Zeit hat er in seinem Erinnerungsbuch Mein
Leben – Meine Kunst alles Nennenswerte niedergeschrieben. Ich habe
versucht, die von mir in drei Jahrzehnten gesammelten Daten und Fakten zu einer
bislang unerzählten Geschichte zu vereinen. Nicolai Gedda hat als diskreter
Künstler und Mensch viele Dinge seines Lebens verschleiert. Wer zwischen den
Zeilen dieses Buches liest, wird die Mosaiksteinchen aber zu einem Bild
verdichten können.
Ein letzter Hinweis: Alle Werktitel sind kursiv gesetzt. Sie sind
in der Originalsprache angegeben und ins Deutsche übersetzt, wenn keine
einfache Identifizierung, wie bei einem russischen oder tschechischen Titel,
möglich ist. Ebenfalls kursiv gesetzt sind längere Zitate, Arien- und
Liedertitel sowie die Namen der Theater und Opernhäuser.