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Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 3. König der Tenöre (1960-1964) 5. Wagner? - Nein, danke! (1966) 


4. Begegnung mit Maria Callas (1964-1965)

Gian Carlo Menotti war ein ebenso talentierter wie origineller Theatermann, dessen Werke und Regiearbeiten besonders beim amerikanischen Publikum großen Anklang fanden. Am 31. Oktober 1963 fand an der Pariser Opèra-Comique die Uraufführung seiner Musiksatire Le dernier sauvage (Der letzte Wilde) statt. Das amerikanische Debüt unter dem Titel The last savage wurde natürlich gemäß dem Wunsch Rudolf Bings an der Met exerziert. Die Premiere am 23. Januar 1964 dirigierte das Wunderkind Thomas Schippers, und auch Nicolai Gedda zeigte wieder einmal seine Souveränität bei der Interpretation zeitgenössischer Musik. Das Urteil der Kritik war groß, die Publikumsresonanz danach gering. Seither hat man vom letzten Wilden nichts Nennenswertes mehr gehört...

Am 19. März betrat Gedda wieder das deutsche Konzertpodium und gab in Hannover einen Liederabend. Mittlerweile wurde er auch neben Fischer-Dieskau als Liedinterpret geschätzt. „Jedes Lied erhält seine Gestaltung vom Wort und seinem Sinn her. Die Melodie wird als eine Funktion des Textes betrachtet“,  schrieb damals das Fachblatt Fono Forum.

Aber weitaus bedeutungsvoller als seine Liedinterpretationen wertete die weltweite Kritik seine unvergleichliche Aufnahme von Les Contes d´Hoffmann, die vom 1. bis 23. April 1964 in Paris produziert wurde; Elisabeth Schwarzkopf war Giulietta, Gianna d´Angelo die Puppe Olympia und Victoria de los Angeles die unglückliche Antonia. Das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire leitete André Cluytens. Nicola Ghiuselev, George London und Ernest Blanc bildeten das dämonische Terzett der Widersacher.

Der Pariser Hoffmann ist eine Aufnahme hors concours, an der man nicht zu mäkeln wagt. Sie dient – vor allem Kesting – als Referenz sämtlicher Einspielungen von Offenbachs Meisterwerk. Der Verfasser hält sie schlichtweg für überschätzt! Gedda ist einmalig, aber Schwarzkopf klingt wie eine Matrone und de los Angeles ungewohnt blass. Der Tiefpunkt aber ist für mich die totale Überforderung George Londons und die Besetzung des Nicklausse mit einem Mann – Jean-Christophe Benoit. Geddas Lied vom Zwerg Klein-Zack ist eine klangmalerisch hervorragend dramatisierte Ballade geworden, herrlich ausgeschmückt in der wortakzentuierten Beschreibung dieser buckeligen Figur! Hier hat Kesting wohl Recht, wenn er schreibt, daß sich eine „auch nur annähernd so intelligent-nuancierte“ Aufnahme nicht mehr findet. Auch die Romanze aus dem Olympia-Akt und die Arie aus dem Giulietta-Akt suchen vergebens ihresgleichen. Cluytens hatte bereits 1948 mit Raoul Jobin eine Gesamt-aufnahme vorgelegt; Beecham ein Jahr zuvor den Soundtrack zum Film mit Robert Rouns-ville begleitet. Auch der deutsche Tenor Peter Anders war in einem stark gekürzten Rundfunkmitschnitt von 1946 als Hoffmann zu hören. Nach persönlicher Ansicht erreicht aber keine Einspielung die einmalige atmosphärische Dichte der Rudel-Fassung mit Stuart Burrows und Beverly Sills aus den frühen 70er Jahren.

Nicolai Gedda hatte den tragischen Hoffmann noch bis 1990 im Repertoire, als er damit an der Wiener Volksoper seinen ersten Abschied von der Bühne gab, auf die er dann aber doch wieder zurückkehrte. Davon später mehr.

Auf französischen Bühnen ward Gedda 1964 nicht viel gesehen. In London stand er wieder vor den Mikrophonen. Mit dem von ihm sehr geschätzten Carlo Maria Giulini zeichnete er Verdis Requiem auf. Die Solopartien wurden von Schwarzkopf, Christa Ludwig und Nicolai Ghiaurow – dem späteren Ehemann von Mirella Freni – gesungen. Bei der Sitzung entstanden auch einige Filmsegmente. Auch beim Messias unter Otto Klemperer traf Gedda noch einmal auf Elisabeth Schwarzkopf. Dabei waren auch Grace Hoffmann und Jerome Hines, der bei Geddas Met-Einstand den Mephisto gesungen hatte.

Viel Beachtung fand Klemperers Zauberflöte mit der blutjungen Lucia Popp als Königin der Nacht, Gundula Janowitz als Pamina, Ruth-Margret Pütz als Papagena und dem wunderbaren österreichischen Bass-Bariton Walter Berry als Papageno. Gedda dazu: „Das erste Mal arbeitete ich mit Klemperer bei der Zauberflöte in London zusammen. Er war begeistert von mir, und wir machten eine Reihe von Schallplattenaufnahmen. Klemperer war wohl der beliebteste Dirigent in jener Zeit. Man mochte ihn gern, weil er immer so herrliche Sachen zu sagen wußte. Bei all seinem Humor war er sensibel und ein feiner Kerl.“

Der Tamino ist eine Partie, die sich dem fast keuschen Stimminstrument des jungen Gedda beinahe schon aufdrängte. 1964 – der Sänger zählte 39 Jahre – war die Stimme deutlich ge-reift und voluminöser geworden, ohne indes schwer zu sein. Wie Jürgen Kesting schreibt, „verzaubert er nicht wie Fritz Wunderlich unter Böhm und auch Stuart Burrows unter Solti, durch Verve, lyrische Intensität und jugendlich-strahlende Klangschönheit. Er beeindruckt indes durch ausgefeilte Phrasierung und makellose Diktion. Wie die Bildnis-Arie aber hätte klingen können, hat er im Rezital unter Heinrich Bender gezeigt.“ Gedda seinerseits hielt den Tamino für eine undankbare Partie: „Er kommt auf die Bühne und fällt hin!“ Noch einmal Kesting, klinisch wie immer: „Seine Mozart-Aufnahmen sind zu unheitlich, als daß ich mich ohne Einschränkungen dem ephatischen Lob Walter Legges anschließen könnte. Sie bestäti-gen nicht immer den singulären Ruf des Schweden im Mozart-Fach. Zwar ist Ulrich Schreiber zuzustimmen, wenn er Geddas heute wohl vergleichslosen Sinn für den Aufbau einer musi-kalischen Phrase und die unerhörte Bindung musikalischer Bögen hervorhebt; aber das ist nicht in allen Aufnahmen zu erleben. Der Tamino hat nicht die erwartete tonliche Süße und Schönheit wie etwa bei Fritz Wunderlich, den Gedda freilich in Betreff Phrasierung und Artikulation deutlich übertrifft.“

Zu den von Gedda immer wieder aufgeführten Opernraritäten zählten 1964 auch Auftritte in Boieldieus La Dame blanche (Die weiße Dame) beim Holland-Festival in Amsterdam. Aus dieser Oper hat einzig noch die Arie >Vien, gentile Dame< überlebt. Ebenso wenig hört man heute noch Cimarosas barocke Kammeroper Il matrimonio segreto (Die heimliche Ehe); Geddas einzige Aufführung galt in Wien unter Kurt Herbert Adler einer Filmaufzeichnung des ORF, über die sich weitere Angaben verloren haben. In Wien führte er auch mit Josef Krips seine erste Tosca auf, die er unter Fausto Cleva in Stockholm wiederholte. An der Bühne seiner Heimat gab er weiterhin Gastspiele in Rigoletto, La Bohème und Jewgeni Onjegin. Zu den Höhepunkten zählte auch ein weiterer Benvenuto Cellini in Genf mit Louis de Froment.

Das Interesse der Medien richtete sich im Juli 1964 aber gänzlich auf die lange angekündigte Aufnahme der Carmen mit Maria Callas, die zwar ihren Zenit, aber noch nicht Onassis hinter sich gelassen hatte. Gedda war wie die übrigen Kollegen von dem Medienrummel um ihre Person angewidert, und auch der Callas war das alles peinlich. Wie aber auch Gedda be-stätigte, war sie eine disziplinierte und überaus professionelle Künstlerin, die aber damals nach seinen Erinnerungen „fast keine Stimme mehr hatte. Sie sang, als hätte sie eine heiße Kartoffel im Mund. Das klang alles nur noch lächerlich.“ Diese scharfe Kritik kann der Ver-fasser dieser Zeilen nicht teilen, wenngleich die Aufnahme insgesamt auf viel Gegenwind stieß. Rodney Miles erklärte in Opera on Record, es fehle dem Callas-Portrait an Charme und der Stimme an Gewicht in der tiefen Lage. Kesting: „Callas muß viele Vokale dem Zustand der Stimme anbequemen, sie guttural einfärben.“ John Ardoins Worte sind nicht einfach zu deuten: „Es war eine Bewunderung abnötigende Leistung!“ Gedda wurde indes wieder mal als ein Muster sängerischer Eleganz gefeiert, dessen Rolle als Don José aus einem großen Tonbandsalat unzähliger Takes praktisch zusammengeklebt wurde – der Bandschnitt machte diese Synthetik möglich. Bleibt hinzuzufügen, daß Georges Prétre das Orchester mit knalligen Effekten bis an die Schmerzgrenze dreschte.

Nicolai Gedda über Maria Callas im Interview mit Opernwelt 1999:

Sie hat Raubbau an ihrer Stimme getrieben, wollte alles singen, alles geben. Die größte Sing-darstellerin, ein Erlebnis. Sie war eine Kerze, die an beiden Enden brannte.

Die Liaison zwischen Nicolai und Anastasia nahm unterdessen konkretere Züge an, und das Paar erwägte – wie bereits geschrieben – eine Heirat. Vielleicht wollte Gedda mit diesem Schritt den letzten Wunsch des verstorbenen Vaters erfüllen, oder auch nur seine mißglückte erste Ehe schnell hinter sich bringen. In jener Zeit, als sein Herz höher schlug, begann auch die Zusammenarbeit bei der deutschen EMI mit dem versierten Operettendirigenten Willy Mattes, mit dem er am 21. und 22. Oktober 1964 erstmals leichte Muse aufnahm: In München sang er Höhepunkte des populären Tenorrepertoires, und nahm damit „Urlaub von Oper und Oratorium“, wie uns der Text auf der Rückseite der Platte erklärte. Das Programm bestand aus seiner ersten Aufnahme von >Gern hab´ich die Frau´n geküßt< aus Paganini, >Man lebt nur einmal< aus Der Opernball, >Komm in die Gondel< aus Eine Nacht in Venedig, >Du bist meine Sonne< aus Giuditta und den Liedern >Non ti scordar di me<, >Funiculi-Funicula<, >La Danza<, Gerhard Winklers >Chianti-Lied<, Helmunds >Gute Nacht, mein holdes süßes Mädchen<, Perez´ >Ay-ay-ay<, Laras unvermeidliches >Granada<, Taubers >Du bist die Welt für mich<, Bixios >Mutterlied<, Mays einstiger Schlager für Joseph Schmidt >Ein Stern fällt vom Himmel<sowie einem mit herrlichen C´s ausstaffierten >Tiritomba<. „Man darf Gedda getrost als den besten lyrischen Tenor bezeichnen“ lobte Die Welt, und der Berliner Tagesspiegel konstatierte: „Das ist die schönste Tenorstimme der Welt!“ Mit diesen Aufnahmen begann eine herzliche Liebesbeziehung zum deutschen Schallplattenpublikum, das Gedda schon bald als einen heimischen Tenor von Weltklasse betrachtete. Nach dem großen Erfolg von Geddas Ausflug in die leichtere Muse, beschloß die EMI, ihn künftig zum Zugpferd der geplanten Gesamtaufnahmen zahlreicher Operetten zu machen. Es sollten die ersten Operettenplatten in Stereo und die ersten der Nachkriegszeit werden, die nicht mit drastischen Kürzungen aufwarteten, wie es bei den unzähligen Schellack-Medleys zuvor der Fall war. Es fehlte aber noch eine adäquate Partnerin. Bei der ARIOLA fanden sich Rudolf Schock und Margrit Schramm, die den 1954 verstorbenen Peter Anders und Anny Schlemm ablösten. Für einen Tenor vom Kaliber eines Gedda mußte schon eine Sopranistin von Weltrang her, und die populärste deutsche Sängerin zu dieser Zeit war Anneliese Rothenberger, die bereits als Sophie im Rosenkavalier weltweit Furore gemacht hatte. Sie löste Elisabeth Schwarzkopf an Geddas Seite ab. Die EMI startete die Zusammenarbeit des neuen Duos in München bei den Aufnahmen zu Wilhelm Kienzles Der Evangelimann. Zu den ersten gemeinsamen Operettenaufnahmen zählen die Querschnitte aus Wiener Blut und Giuditta sowie eine Duettplatte unter dem Titel Bella Venezia vom Juni 1965. Die hierbei eingespielten klassischen Szenen aus Casanova und Die Dubarry sind Musterbeispiele sinnlichen Operettengesangs. Zu allen Auszügen spielte das Symphonieorchester Graunke. Der weitere Erfolg dieser Veröffentlichungen legte den entgültigen Startschuß für eine Serie von Gesamtaufnahmen großer Operetten, an denen Gedda bei 14 Produktionen bis 1984 beteiligt war. Am 10. April 1965 wurde in der Wiener Volksoper Lehars Das Land des Lächelns mit Gedda aufgeführt, der mit den Worten Jürgen Kestings „wie ein wiederauferstandener Richard Tauber“ gefeiert wurde. Der Dirigent war Anton Paulik. Von nun an ging es – vornehmlich in München – Schlag auf Schlag mit dem gewünschten volkstümlichen Nachschub: Im Juni nahm Gedda unter Fritz Lehan an einem deutschsprachigen Querschnitt des Postillon von Lonjumeau teil. Die Partner waren Ruth-Magret Pütz und Franz Crass. Geddas Postillonlied übertrifft sogar die Prétre-Version von 1961 und gilt als Jahrhunderaufnahme dieser Szene. Kesting: „Er sing die balladeske Arie nicht um des hohen D willen, obwohl er so singt, daß viele Kollegen ihn deshalb beneiden müssen. Wichtiger ist eine unnachahmliche Kunst des gestischen Singens aus der Perspektive eines Erzählers, der im Klang einen Vortrag beschwört. Wenn er berichtet, der Postillon sei eines Abends hinweggeeilt und von einer Königin auf einer einsamen Insel zum König ernannt worden, dann lacht der Vortragende über das Erzählte als Märchen – und er lacht nur mit dem Klang der Stimme!“. Noch im selben Jahr folgten in Dresden Lortzings Zar und Zimmermann sowie eine deutscher Querschnitt von Giuseppe Verdis Die Macht des Schicksals. In beiden Produktionen kam Gedda mit Hermann Prey zusammen, der noch oft sein Partner wurde. In der Lortzing-Oper traten ferner Peter Schreier, Erika Köth und Gottlieb Frick vor die Mikrophone, in Verdis 1862 in Petersburg uraufgeführtem Werk war die Schwarze Venus von Bayreuth, Grace Bumbry, die Leonore. Trotz mancher Gerüchte gibt es nur einen Querschnitt, keine Gesamtaufnahme.

Am 21. Februar 1965 hatte Gedda in einer russischen Kirche in Stockholm seine geliebte Anastasia geheiratet. Über diese Verbindung macht er in seinen Memoiren keinerlei Angaben. Offensichtlich muß sich diese fast 20 Jahre andauernde Ehe später dann zu einem Martyrium gewandelt haben. 1977 wurde ein gemeinsames Kind geboren. Die Eltern nannten ihren Sohn Dimitri – es war der Name von Nicolai Geddas erster Schallplattenrolle 1952 im Boris Godunow. Dieser Sohn ist heute beinahe 30, man hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Im Juli 1965 begleitete Gerald Moore den Tenor bei einer interessanten Einzelplatte mit Liedern der Welt von Casella, Carnevali, Rachmaninoff, Resphigi, R. Strauss, Turina und Veracini. Solche Liederplatten hat Gedda immer wieder aufgenommen, später mit Jan Eyron.

Zu eine der letzten Aufnahmen mit Otto Klemperer kam es im Frühherbst in London bei Mozarts Don Giovanni. Geddas Ottavio findet Kesting „so exaltiert, daß er während der ersten Arie >Dalla sua pace< ständig falsch intoniert, und auch >Il mio tesoro< hat wenig Fluß und Bindung. Der Ton ist unstet, das Timing ausgesprochen ungelenk“. Immerhin war das Aufgebot der Sänger beeindruckend: Nicolai Ghiaurow, Christa Ludwig, Mirella Freni, Franz Crass und Walter Berry.

In Wien wiederholte Gedda seinen Erfolg als Rudolfo, die Mimi wurde nach eigenen Angab-en von Erika Köth gesungen. Die Österreicher erlebten den Schweden auch in einer neuen Partie: Erstmalig sang er den Riccardo in Verdis Un ballo in maschera (Ein Maskenball) unter Argeo Quadri. Leider hat er diese oft dargestellte Figur niemals für die Schallplatte aufgezeichnet, aber glücklicherweise gibt es einen Wiener Mitschnitt vom Dezember 1975. Über Auftritte mit Mirella Freni an der Wiener Staatsoper 1965 in Donizettis L´elisir d´amore waren leider nur spekulative Angaben auszumachen. Im November war er zu Beginn der neuen Met-Spielzeit wieder in New York, wo er unter der Regie des großen französischen Mimen Jean Louis Barrauld in einer Faust-Inszenierung, die Gedda sehr schätzte, seine neunte Met-Saison einleutete. Publikum und Sänger waren gleichermaßen von den herrlichen mittelalterlichen Kulissen und Kostümen begeistert. Schockierend war nur die nahezu pornographische Darstellung der Walpurgisnacht, die vom Publikum geächtet und von Bing bald entfernt wurde. Zeitgleich fand auch die Premiere von Geddas Werther auf der Konzertbühne der Carnegie Hall statt. Damit vergrößerte sich die Summe seiner bislang mehr als 30 Rollen wieder einmal. Der Werther wurde zu einer seiner berühmtesten Partien, und er sang sie noch 1982 als Mittfünfziger!


 3. König der Tenöre (1960-1964) 5. Wagner? - Nein, danke! (1966)