Zur Startseite
Nicolai Gedda - Chronologie einer Opernkarriere von Michael Stember

 5. Wagner? - Nein, danke! (1966) 7. Qualität und Quantität (1970-1979) 


6. Operette nach Wunsch (1967-1970)

Rudolf Bing, der seine Metropolitan Opera mit eiserner Hand leitete, wollte natürlich nach dem Umzug ins moderne Lincoln-Center nur das Beste auf die Bühne bringen. Die Künstler waren das Mittel zum Zweck, die glitzernde Society zu befriedigen. Eine Aufführung ohne Schlagzeile galt Bing als Fiasko. Ihm war fast jedes Mittel recht, das Medium Oper mit der Zugkräftigkeit berühmter Namen zu vermählen. Eine Zauberflöte in den Bühnenbildern nach Vorlagen des weltbekannten französischen Malers Marc Chagall (damals bereits 79 Jahre alt) schien dabei ein sicherer Garant für einen Aufführungstriumph.

  Nun hat sich Rudolf Bing aber der Nachwelt durch zahlreiche Bemerkungen bezüglich des Opernbetriebs und insbesondere über Stimmen nicht unbedingt als ein kompetenter Experte gezeigt. Bing beschäftigte Regisseure, die ihre Sänger tanzen, fechten, kriechen und andere Kapriolen vollführen ließen. Gedda wurde in Chagalls Zauberflöte nach der Musik von Mozart zu so einem Opfer. Er hatte ein bombastisches weißes Kostüm zu tragen, das nicht nur schwer wog, sondern auch kaum die Möglichkeit zum Atem holen gestattete. Als Gedda sich erstmalig im Spiegel betrachtete, dachte er nur: „Du siehst aus wie Gorgeous George!(Der prachtvolle George)“. Das war ein damals bekannter Ringer von aparter Grobschlächtigkeit. Bing zerstreite wie üblich alle Zweifel, und gleich als sich der Vorhang am 19. Februar 1967 zur ersten Aufführung hob, und sich die ersten „Ah, Chagall, Chagall...“-Rufe wieder gelegt hatten, hörte Nicolai in den Kulissen ein Gekicher: „He´s looking like Gorgeous George!“ Nach zähem hin und her war Bing bereit, Geddas Kostüm ändern zu lassen. Man wählte eine Farbe, die dann aber vor dem gemalten Hintergrund vollkommen verschwand. Der Dirigent des Abends war Josef Krips.

  Erfreulicher war kurz zuvor, am 28. Januar, der Don Giovanni an der Metropolitan mit Maestro Karl Böhm und Cesare Siepi als Schürzenjäger. Auch Joan Sutherland als Donna Anna und die große spanische Sopranistin Pilar Lorengar als Donna Elvira standen auf der Besetzungsliste. Ein Mitschnitt hat eine der denkwürdigen Aufführungen verewigt. Danach trat Gedda als Don Ottavio auch im Münchener Herkulessaal unter Joseph Keilberth auf. Die Sutherland war auch Geddas Partnerin am 21. Mai in Wien bei der von Richard Bonynge geleiteten Vorstellung von Joseph Haydns barockem Orfeo. Mit nahezu selbiger Besetzung wurde das seltene Werk später auch in Edinburgh aufgeführt. Mitschnitte gibt es in beiden Fällen! Konserviert wurde auch Geddas erneuter Höhenflug in Bellinis I puritani beim Maggio Musicale in Florenz im Mai. Ihm zur Seite die niederländische Sopranistin Christina Deutekom. Riccardo Muti dirigierte.

Vom 4. bis zum 8. Juni entstand dann im Münchener Bürgerbräu mit Hinblick auf Geddas großen Erfolg 1965 in der Wiener Volksoper die erste Stereogesamtaufnahme von Lehars Land des Lächelns. Zeitgleich verewigte man noch Auszüge aus Die lustige Witwe. Beide Operetten führten Anneliese Rothenberger an der Spitze der Besetzung, bei der Witwe konnte man auch auf Erika Köth und den Ungarn Robert Ilosfalvy zurückgreifen, dessen sich strahlend anbahnende Karriere (Ungarn, Kölner Oper, Schallplattenaufnahmen mit Sills und Rothenberger) rasch wieder im Nichts verlief.

  Nicolai Gedda als chinesischer Prinz Sou-Chong gehört zu den Sternstunden der Operette auf der Schallplatte. Der Schwede bot eine Interpretation, die Kritiker rund um den Globus enthusiastisch bewertet haben. Nach Kestings Einschätzung hat „Gedda Operette mit der Noblesse eines Mozart-Sängers geboten, zugleich aber mit der pointierten Diktion eines Chanson-Sängers versehen.“ Die großen Arien des Prinzen singt er nicht wie Tauber, sondern mit der Beherrschung seiner stimmlichen Mittel, konzentriert auf den Wohllaut der Musik. So wie Peter Anders zuvor, würzt auch Gedda seinen nuancierten Ausdruck mit einer fast schon intellektuellen Pikanterie. Es lacht die Stimme, sie singt nach den Worten Kestings „mit hochgezogener Augenbraue!“

  Der Verfasser dieser Chronologie ist überzeugt, Geddas Interpretationsstil lässt sich vor-nehmlich durch seine Operettenaufnahmen begreifen. Der innere Sinn einer Melodie wurde von dem Tenor erkannt und zum Klingen gebracht. In seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst schrieb Ferruccio Busoni: „Es darf der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt sein!“ Der Sänger brach auch eine Lanze für die oftmals verschmähte Gattung der vermeintlich leichten Operette: „Sie ist schwieriger als Oper. Dort gibt es viel gesprochenen Dialog, und es wird verlangt, daß man auch gut Theater spielen kann.“ Diese Ansicht vertrat auch stets Anneliese Rothenberger, die einmal sagte: „Operette muß so natürlich gesungen werden, als spräche man!“ Zwischen Gedda und der Sopranistin, die damals im Rheingau lebte, entwickelte sich eine künstlerische Partnerschaft, die sich aber scheinbar nie in einer privaten Freundschaft festigte. In seinem Erinnerungsbuch erwähnt der Tenor Anneliese Rothenberger nicht; eine weitere von vielen Ungereimtheiten. Beide Künstler betonten aber einmal,  nie den privaten Kontakt zu anderen Sängern gesucht zu haben.

  Gedda 1994 zu Opernglas:

Ich bin sehr wenig mit Sängern zusammen, denn es wird fast immer mit Neid und negativ von den Kollegen gesprochen. Dagegen bin ich allergisch.

  Unmittelbar danach zeichnete Gedda mit dem Orchester der Bayerischen Staatsoper unter Heinrich Bender sein berühmtes Album mit deutschen Arien auf. Er sang >Dies Bildnis< aus Mozarts Zauberflöte, >Horch die Lerche< aus Otto Nicolais Die lustigen Weiber von Windsor, Hüons zwei Szenen aus Oberon von Weber, die Arie aus dem 3. Akt von Flotows vergessener Oper Alessandro Stradella, Lohengrins >Gralserzählung< und >Mein lieber Schwan<, Goldmarks >Magische Töne< aus Die Königin von Saba und sogar Florestans großen Monolog >Gott, welch´ Dunkel hier< aus Beethovens Fidelio. Diesen Versuch, so schrieb einst Jürgen Kesting, „hat Gedda bestanden, ohne aber wirklich zu beeindrucken, geschweige denn zu berühren, weil er zu rühren versucht. Das extravertierte Pathos führt zu einer unkonzentrierten Tongebung, und der Poco-allegro-Teil ist unsicher.“ Die Hüon-Arien aber lobt Kesting weit über die von Helge Rosvaenge.

  Vom 10. bis 16. September widmete sich Gedda wieder einem Operettentandem: Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß und Millöckers Bettelstudent stand in München unter Franz Allers auf dem Programm. In beiden Aufnahmen wurde die 1920 in Barnaul geborene Rita Streich eingesetzt, deren silberner Koloratursopran sich für Operetten ideal ausnahm. Um den zugkräftigen Namen der Rothenberger auszunutzen, mogelte man schnell zwei Aufnahmen von 1965 in die Nacht in Venedig hinein, die mit Hermann Prey einen weiteren bekannten Namen aufbot. Er sang auch den Oberst Ollendorf in Bettelstudent. Cesare Curzi erschien als Caramello in der Nacht in Venedig nur einmal in einer Gedda-Operette. Die Strauß-Aufnahme konnte aber dem Querschnitt mit Fritz Wunderlich unter Fried Walter nicht das Wasser reichen, obwohl in ihr Rudolf Schock mit gequälter Tränenstimme den Herzog Guido gab.

  1967 war Nicolai Gedda sicherlich der höchstbezahlte Tenor der Welt. Er sah sich jedes Jahr erneut gezwungen, zum Zwecke der Steuererklärung in Schweden dem Fiskus entgegen zu treten. Geddas Freund und langjähriger Bühnenpartner George London begeisterte ihn für die Schweiz, wo dieser in Nähe von Laussane bereits mit seiner Gattin lebte. Nicolai und Anasta-sia Gedda entdeckten in Tolochenaz, unweit von Morges im Kanton Vaud, einen alten Bauernhof, den sie zu einem annehmbaren Preis kauften. Doch hierhin konnte der Sänger nur selten kommen. Die Verpflichtungen in aller Welt waren enorm, und Gedda nahm ein Angebot nach dem anderen an. Er sang schier alles – auf der Bühne und in den Plattenstudios.

  Er reiste schon zwei Tage nach Beendigung der Bettelstudent-Aufnahme nach Paris, und sang zur Pianobegleitung von Aldo Ciccolini französische Lieder für die Pariser EMI. In der zweiten Novemberwoche entstanden an 4 Tagen in London jene Aufnahmen italienischer Arien, die dann gemeinsam mit Material von 1966 zu Geddas Einzelplatte Recondita armonia zusammengefaßt wurden (In Deutschland nannte man die LP Berühmte italienische Arien.) Vom 6. bis zum 15. Oktober und am 22. Dezember spielte er Mozarts Entführung in London mit Yehudi Menuhin in englischer Sprache ein. Diesmal wurde auch die Baumeister-Arie (>Ich baue ganz auf deine Stärke<) nicht gestrichen. Mit Klemperer arbeitete er noch einmal für Bachs Messe in H-Moll zusammen. Ihm zur Seite sangen Agnes Giebel und Janet Baker.

  Der Rigoletto mit Cornell MacNeil als Narr und Reri Grist als Gilda wurde zwiespältig bewertet, und wird selten zu den gelungenen Aufnahmen dieser mittleren Verdi-Oper gezählt. In seiner Abhandlung Die großen Sänger vergisst Jürgen Kesting im Kapitel über Gedda die Einspielung einfach. Auch Jens Malte-Fischer erwähnt sie nicht. MacNeils Portrait bezeichnete Kesting „faserig und unfokussiert“. Erst im Kapitel über Reri Grist schreibt er: „Sie passt zu dem klanglich kühlen und auf angestrengte Weise emphatischen Nicolai Gedda. Die Duette mit Cornell MacNeil sind, was die Klangbalance, Kolorierung und Phrasierung angeht, enervierend.“ Auch mir will der Herzog von Alfredo Kraus mehr gefallen.

  In der schier unübersehbaren Diskographie Geddas lassen sich viele Aufnahmen leider nicht näher datieren. Noch weniger lässt sich das Privatleben des Sängers rekonstruieren. Bekannt ist sein Umzug 1968 nach Tolochenaz. Hier lebte bereits in ruhiger Abgeschiedenheit seit einigen Jahren auch Audrey Hepburn. Es bleibt zu vermuten, daß die Ehe des Sängers damals noch intakt war. Auf vielen Photos jener Jahre jedenfalls zeigt er sich mit seiner lächelnden Gattin Anastasia.

  1968 stand in London Mendelssohn Elijah (Elias) mit Gwyneth Jones, Janet Baker und Dietrich Fischer-Dieskau unter Rafael Frühbeck de Burgos ebenso auf dem Programm wie Webers Der Freischütz im Frühjahr in München. Hier war Birgit Nilsson als Agathe die Partnerin Geddas, der seinen Max routiniert ablieferte. Auch die vom 2. bis 11. März aufgezeichnete Martha (mit Rothenberger, Prey und der blutjungen Brigitte Fassbander) bietet solide Volkstümlichkeit, mehr nicht. Beide Werke wurden von Robert Heger geleitet. Unmittelbar danach, am 22. März 1968, bildete Gedda gemeinsam mit Joan Sutherland, Phyllis Curtin, Mildred Miller, Jerome Hines, Tito Gobbi, Charles Anthony und dem Dirigenten Donald Vorhees ein zu neckischen Späßen aufgelegtes Ensemble, das sich im Rahmen einer amerikanischen TV-Show der Bell Telephone Hour im New Yorker Fernsehstudio traf. In insgesamt sechs live gesungenen Musikdarbietungen steigerten sich die Ausführenden vom Duo zum Sextett. Die Sendung hatte man daher Two to six genannt; Gedda sang in Auszügen aus Faust, Rigoletto, Meistersinger und Lucia di Lammermoor. Die ganze Show dauerte nur 52 Minuten, bereitete aber sichtlich allen Beteiligten viel Freude.

  Am 6. und 13. April folgten Auftritte in Roméo et Juliette gemeinsam mit der Freni an der Met, ein weiterer Orfeo von Hadyn mit der Sutherland bleibt undatiert. Nach Saison-Ende kehrte Gedda zurück nach Schweden, wo man ihm eine der höchsten Auszeichnungen der schwedischen Musikakademie verlieh, den Orden Litteris et artibus – Leben und Kunst! Zu den vorangegangenen Preisträgern gehörte auch Jussi Björling.

  Eine der schönsten Operettenaufnahmen mit Gedda wurde vom 19. Juli bis zum 7. August in München produziert: Lehars schwermütiger Zarewitsch, der ganz dem introvertierten Naturell des Halbrussen Gedda entsprach. Neben Rita Streich als Sonja – der Besten, die man auf der Schallplatte finden kann - wirkte  auch der bekannte Schauspieler Hans Söhnker als Großfürst mit. Harry Friedauer und Ursula Reichard als Iwan und Mascha gestalteten treffsicher das obligatorische Buffo-Paar. Das Symphonie-Orchester Graunke wurde unter Einsatz authentischer Balalaika-Klänge von Willy Mattes geleitet. Überaus prominent besetzt war auch die anschließende Aufnahme von Lehárs Graf von Luxemburg. Wegen der anfänglichen Unabkömmlichkeit von Lucia Popp, die Gedda zur Partnerin wünschte, wurden die Sitzungen verschoben. Geddas René hat seine stärksten Momente in den gemeinsamen Duetten. Er haucht mit berückendem Schmelz in der Stimme >Bist du´s, lachendes Glück?<  In den Nebenrollen garantieren Renate Holm und der von der EMI unterforderte Willi Brokmeier die zu erwartende Qualität. Kurt Böhme singt gar den Salonlöwen Basil!

  Unter den unzähligen Liederplatten, die der Tenor veröffentlichte, sei hier nur die gegen Ende September entstandenen Skandinawischen Lieder erwähnt, bei denen ihn Jan Eyron am Piano begleitete.

  Die gewichtigste Einspielung des Jahres 1968 war ohne Zweifel sein Werther von Jules Massenet nach der Vorlage von Goethe. Nach seinem ersten konzertanten Auftritt drei Jahre zuvor, folgte nun die insbesondere von den Franzosen lang erwartete Studio-Einspielung. Die Lotte war Victoria de los Angeles, die Sophie ging an die französische Koloratur-Soubrette Mady Mesplé. Das Orchester d´ORTF Paris dirigierte Georges Prétre.

  Werther zählt zu den schwierigsten Tenorrollen des französischen Fachs. Keine hybriden Höhensprünge oder kräftezehrenden Tonattacken prägen ihn, vielmehr ist es eine gänzlich von intensiven Gefühlen gezeichnete Unschuldsrolle. Schon Guillaume Ibos, Massenets erster Werther 1892, kritisierte: „Zumeist wird zu viel Lärm gemacht, fehlt es an Empfindung und an der Vielfalt der Nuancen. Es gibt zu wenig Musik!“ Um den Verdienst Geddas an dieser Figur zu begreifen, sollte man sich zunächst einmal Giuseppe di Stefano, Placido Domingo, José Carreras oder gar Franco Corelli (Mitschnitt 1971) anhören. Wie Kesting schreibt: „Die Balance von Musik und Wort trifft Gedda besser und genauer als alle seine Confrères. Er hat keine Konkurrenz – was für ihn und noch mehr gegen seine Rivalen spricht.“ Seine Klage >Pourquoi me réveiller< ist in Musik gefasster Schmerz geworden. Gedda sang den Werther nach eigenen Worten noch mit 57 Jahren: „Er ist ein Mann von 18 Jahren, und ich war etwas überreif.“ Gleichzeitig aber charakterisierte er: „Man soll pianissimo singen und dennoch Gefühle auf eine ungeheuer intensive Art ausdrücken. Dafür braucht man sowohl Technik wie Erfahrung, sogar Lebenserfahrung!“

  Den Jahreswechsel 1968/69 verbrachte Gedda diesmal nicht in New York. Bereits im Januar trat er in Berlin mit Hilde Güden in Rigoletto auf, am 11. sang er mit Marilyn Horne in Rom erneut La damnation de Faust (Prétre). Die Aufführung wurde von der RAI übertragen. Am 1. Februar stand er wieder in Lucia di Lammermoor auf der Bühne der Met. Noch im selben Monat zeichnete er in München mit Brigitte Fassbaender wieder einige Operettenszenen auf. Das Duett >Geh´n wir ins Chambré separé< aus Heubergers Opernball ist auf zahlreichen EMI-Veröffentlichungen zu finden.

   Die Aufzeichnungen zu der ARD-Musiksendung Geschichten aus dem Theater an der Wien fanden vom 14. - 18. März statt. Gedda erschien neben Rudolf Schock, Erika Köth, Brigitte Faßbender und Margrit Schramm. Nähere Angaben sind nicht mehr bekannt.

  Am 2. April sang er für die EMI Lieder von Peter Tschaikowsky, und vom 12. – 15. April 1969 wurde Geddas vielleicht beste Einzelplatte mit der Belgrader Philharmonie unter Gika Zdravkovitch in München aufgenommen: Berühmte russische Arien. Die Programmfolge wurde von dem Sänger persönlich ausgewählt. Zu den Höhepunkten der Schallplatte zählt sicherlich die Jahrhundertaufnahme der Sobinin-Arie aus Glinkas Schisn na Zarja (Das Leben für den Zaren) mit ihren sechs hohen C´s und einem des, von der Andreevsky in seiner Geschichte der russischen Musik einst vermerkte, daß diese Bravourszene immer wieder ge-strichen werden mußte, weil kaum ein Sänger den Anforderungen gewachsen war. Vergleicht man die Version von 1969 mit Geddas erster Aufnahme vom Juni 1957, dann erkennt man deutlich den Zuwachs stimmlichen Potentials. Kesting schreibt dazu: „Wäre Glinkas >Brüder, im Sturm< an dem Tage aufgenommen worden wie Meyerbeers Sicilienne aus Robert le diable (Robert der Teufel) durch Leon Escalais – die Aufnahme rechnete zu den berühmten Sammlerstücken.“ In den 1960er Jahren war die russische Oper dem Klassik-Freund nicht sonderlich vertraut. Die bekanntesten Werke wurden eingedeutscht, so auch Wunderlichs Onjegin. Es ist Geddas Verdienst, für eine Wiederbelebung dieses Repertoires gesorgt zu haben.

  Die Zusammenarbeit mit Georges Prétre setzte sich bei einer römischen Aufführung von Berlioz Les Troyens (30. Mai), wieder mit Horne und Verrett, fort. Er stand auch am Pult bei der Aufnahme zu La damnation de Faust mit Gabriel Bacquier und Janet Baker kurz darauf. In der Zeit vom 29.8. – 2.9. wurden in Stockholm wieder mit Jan Eyron am Piano Liebeslieder von Beethoven für die EMI gesungen. Zwei weitere Daten sind spekulativ: Am 26. November  in San Francisco der einzige Bühnenauftritt als Fra Diavolo von Auber, und eine weitere Vorstellung mit Les Troyens in Rom, angeblich am 11. Dezember 1969.

  Keine Spekulation ist die Aufnahme von Johann Strauß´ Der Zigeunerbaron. Die EMI hatte große Namen dafür aufgefahren: Gedda war in seiner zweiten Einspielung nach 1954 wieder Sandor Barinkay, Grace Bumbry die Saffi, Rita Streich die Arsena und Hermann Prey der Homonay. Den Schweinezüchter Zsupán polterte Kurt Böhme. Franz Allers leitete das Orchester der Bayerischen Staatsoper. Das Schallplattenalbum wird vom Verfasser nicht ohne Einwände gehört. Zum ersten Mal entdeckt man bei Nicolai Gedda so etwas wie tenorale Selbstgefälligkeit: Eine Unart, die insbesondere in vielen Spätaufnahmen zu finden ist. Bei seinem Auftrittslied >Als flotter Geist< verlässt er oftmals die Linie und vergißt sich im Rausch der Melodie. Die eingestreuten französischen Textzeilen machen zudem aus dem Stück eine artistische Zirkusnummer! Nett anzusehen sind aber die vielen Produktionsphotos, die im Begleitheft der Album-Erstauflage abgedruckt sind. Eine weitere Entgleisung gibt es auf dem Album Ein Walzertraum, das im Frühjahr 1970 mit Rothenberger, Moser und Fassbaender unter Willy Mattes in München entstand.  Zum reinen Selbstzweck mischten die Tontechniker Geddas Stimme beim Lied >Leise, ganz leise< zum Duett mit sich selbst. Im Frühling 1970 fand auch eine Begegnung mit Robert Stolz statt. Medienwirksame Photos von diesem letzten, nun 90jährigen Meister der Wiener Operette, gemeinsam mit Gedda und Rothenberger, wurden veröffentlicht. Schon bald konnte man die in München produzierte LP Nicolai Gedda singt Robert Stolz in den Geschäften finden. Die Duette mit der Rothenberger veröffentlichte man später unter dem Titel Zwei Herzen im Dreivierteltakt und in anderen Doppelalben. Geddas Vortrag bekannter Tenorschlager wie das von Kiepura berühmt gemachte >Ob blond, ob braun< oder die wunderbar akzentuierten Stücke >In Wien hab´ ich einmal ein Mädel geliebt< und >Arrivederci, bella Italia< zeigen den Tenor wieder von seiner besten Seite. Das erstgenannte Lied (stilecht mit Schramml-Untermalung) würzt er mit einem raffiniert-melancholischen Unterton, der konträr zu den Worten steht, das zweite gerät zur amüsanten Selbstdarstellung eines reisenden Casanovas. Er steht hier auf einer Höhe mit Fritz Wunderlich, dem Meister des populären Tenorliedes. Leider wird auch Robert Stolz in der Autobiographie Geddas nicht erwähnt!

  Als Set Svanholm 1963 schwer erkrankte, übernahm Göran Gentele die Leitung der Oper von Stockholm. Er war an diesem Haus groß geworden, und hatte bereits als Regisseur unter drei Direktoren gedient. Im März 1970 konnte er Gedda für einige Gastspiele als Gustav III. in Verdis Un ballo in maschera gewinnen. Mit Genteles Konzeption, den barocken Monarchen als Homosexuellen darzustellen, konnte sich der Sänger aber nicht anfreunden. Das Make-up war betont feminin. Gedda informierte sich über den historischen Gustav III, und entdeckte interessante Dinge. Der seichte Gang des Königs war Folge einer Lahmheit, und hatte nichts mit weibischen, homosexuellen Gebärden zu tun. Gedda imitierte sogar Gesten des Königs, die er auf Gemälden gesehen hatte. Der historische Gustav III. (1746-1792) war ein Neffe Friedrich des Großen. Er war der Begründer der absolutistischen Herrschaft, der Reformator des Herrwesens. Er setzte eine neue Verfassung gegen den Hochadel durch, und wurde dadurch bei einem Maskenball das Opfer des abgesetzten Offiziers Anckarström, den Verdi mit Hinblick auf die Zensur in seiner revidierten Fassung Renato nannte. Aus der politischen Intrige wurde bei Verdi also ein Mord aus Eifersucht – wie so oft! Da der König am Hof im Schweden und Frankreich nur von Frauen umgeben aufwuchs, nahm er nach der Ansicht Geddas feminine Züge an. Tatsächlich bleibt auch die Liebe des Monarchen zu der Gattin Anckarströms in der Oper rein platonisch. Dazu Nicolai Gedda: „Das Liebesduett darf nicht in zu romantischer Stimmung schwelgen. Hier hatte Gentele den Einfall, die Figur zu theatralisieren, sie zu übertreiben. Er zauberte damit die Liebe fort!“ Wer allerdings Pavarotti oder Domingo in dieser Szene erlebt hat, freut sich, daß es auch noch einige leidenschaftliche Männer gibt...

In München entstanden im März 1970 wieder Liedaufnahmen, und die Schallplatte zu Oscar Strauß´ Ein Walzertraum. Zu dieser Zeit bekam der Sänger wegen gewinnbringender Verdienste den sogenannten Ehrenring der EMI durch Direktor Peter de Jongh überreicht. Auf den Pressephotos lächeld auch wieder Frau Gedda in die Kamera. Der Herr Tenor sieht mit seinen ungekämmten Haaren allerdings aus, als habe er die Nacht durchzecht. Nun zeichneten sich graue Schläfen bei dem 45jährigen ab. Dadurch wurde sein weiches Äußeres männlicher und charismatisch.

  Die konzertanten Aufführungen von Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Le Prophète (Der Prophet am 8. und 10. Juli in Turin unter Henry Lewis mit Marilyn Horne, fügte man später zu einem Live-Album zusammen. Meyerbeers Werk liegt insgesamt in weniger als einem halben Dutzend Aufnahmen vor. Die Einspielung zu Massenets Manon fand unmittelbar danach vom 15. – 29. Juli 1970 in London statt. Julius Rudel dirigierte das New Philharmonia Orchestra. Die Manon wurde von Beverly Sills gesungen. Der Verfasser schätzt diese Schallplatte sehr, auch wenn Kesting Sills als „altjüngferlich“ bezeichnet. Er lobt aber Geddas „subtilen Vortrag der Traumerzählung. Nicht der Sänger singt, es singt aus ihm mit einem ganz behutsamen, innerlichen Klang. Und selbst wenn er in dieser Partie die dramatischen Höhepunkte zu emphatisch heraushebt, ist er seinen Kollegen beträchtlich überlegen“. Eine persönliche Anmerkung sei gestattet: Ich habe unzählige Version des großen Duettes im 1. Akt gehört. Nicht ein einziger Vortrag hat die ätherische Leichtigkeit, mit der Gedda die Phrase >J´ai marqué l´heure du départ< beginnt. Die Traumerzählung >En fermant les yeux< liegt gänzlich in der Mittellage auf pp. Hier war und blieb Nicolai Gedda mit seiner exquisiten Mezza-Voce der unerreichte Meister seines Fachs. An der Manon von Sills gefällt mir die verspielte Koketterie und der laszive Unterton. Das Album wurde in Amerika ein Bestseller und die erfolgreichste Operneinspielung aller Zeiten. Beverly Sills hatte zuvor als Manon an der New York City Opera für Schlagzeilen gesorgt.

  Über die Aufführungen von La Traviata mit Montserrat Caballé unter Bruno Bartoletti in Chicago hat sich Gedda sowohl in seinem Buch wie auch in einem Interview mit dem Klassik-Magazin RONDO geäußert: „Ganz schrecklich, eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde. In der Todesszene im letzten Akt versuchte ich, mich auf das Bett zu setzen, aber sie nahm die ganze Fläche ein. Was kann man da machen? Mir blieb nur ein kleiner Rand, und ich merkte, wie ich drohte hinzufallen. Am schlimmsten war, daß sich jemand hinter den Kulissen totlachte. Montserrat merkte gar nichts! Sie ist eine wunderbare Künstlerin, aber sie mag – glaube ich – gerne Kuchen...“. Wie die Spielpläne der Lyric Opera zeigen, hat Gedda in Chicago auch in anderer Hinsicht wenig Halt gefunden: Über 7 Traviata-Aufführungen im Oktober und November 1970 kam er dort nie hinaus. Die meisten Auftritte gingen auf das Konto von Alfredo Kraus, Carlo Bergonzi und – vor allem – Richard Tucker, der damalige Liebling der Amerikaner.


 5. Wagner? - Nein, danke! (1966) 7. Qualität und Quantität (1970-1979)